Interview
Neues Kapitel in der Geschichte der RAF?
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© picture alliance/dpa | Marijan Murat

Die Verhaftung der vormaligen RAF-Terroristin Daniela Klette nährt die Hoffnung, dass bei der Aufklärung von Verbrechen der ehemaligen Terrororganisation ein neues Kapitel aufgeschlagen werden könnte. Hierüber haben wir mit Klaus Pflieger gesprochen, der als früherer Mitarbeiter der Bundesanwaltschaft und Generalstaatsanwalt in Stuttgart sowohl gegen Mitglieder der RAF als auch gegen den NSU ermittelt hat.

27. Mrz 2024

NJW: Welche Verbrechen der Terrorgruppe sind bis heute noch nicht aufgeklärt?

Pflieger: Die Attentate der 1. RAF-Generation – insbesondere eine Serie von sechs Sprengstoffanschlägen im Mai 1972 mit insgesamt vier Toten – sind weitgehend aufgeklärt; Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe wurden dafür zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt. Mit Ausnahme von Friederike Krabbe, die im Libanon als verschollen gilt, sind alle Mitglieder der 2. RAF-Generation verhaftet und meist zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt worden, weil von ihnen in Bezug auf Anschläge Spuren gesichert wurden. Allerdings sind nur das Attentat auf den Bankier Jürgen Ponto, der am 30.6.​1977 beim Versuch, ihn zu entführen, erschossen wurde, und der versuchte Mordanschlag auf Nato-General Alexander Haig am 25.6.​1979 vollständig aufgeklärt. Nicht identifiziert sind vor allem die beiden RAF-Mitglieder, die auf dem Tatmotorrad saßen, als Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine beiden Begleiter am 6.4.​1977 erschossen wurden. Unbekannt ist insbesondere auch, wer am 19.10.​1977 Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer ermordet hat. Die zahlreichen Attentate der 3. RAF-Generation – etwa die Morde an Bankier Herrhausen und Treuhandchef Rohwedder – sind fast alle unaufgeklärt. Nur beim Sprengstoffattentat auf die US-Airbase in Frankfurt a. M. am 8.8.​1985 mit zwei Toten sowie dem vorausgegangenen Mord an einem US-Soldaten, dessen ID-Card für den Anschlag benützt wurde, wurden Eva Haule und Birgit Hogefeld als Tatbeteiligte ermittelt.

NJW: Weshalb konnten so viele Verbrechen, die mutmaßlich auf das Konto der RAF gehen, immer noch nicht aufgeklärt werden?

Pflieger: Vor allem die Attentäter der 3. RAF-Generation waren darauf bedacht, möglichst keine kriminaltechnisch verwertbaren Spuren zu hinterlassen. Von Bedeutung war aber vor allem das Schweigegebot der RAF; so wurde bereits 1973 befohlen: „Keiner spricht mit den Bullen! Kein Wort!“ Durchbrochen wurde diese Omertà in zwei Fällen: Peter-Jürgen Boock, einer der Haupttäter des Deutschen Herbstes 1977, legte 1982 eine „Lebensbeichte“ ab, in der er unter anderem zugab, einer der Attentäter gewesen zu sein, die am 5.9.​1977 Hanns-Martin Schleyer entführt und dabei seine vier Begleiter erschossen haben. Außerdem sagte Werner Lotze, der, wie weitere neun „RAF-Aussteiger“, 1990 in der ehemaligen DDR verhaftet wurde, umfassend aus. Er gestand dabei unter anderem einen Polizistenmord und belastete Mittäter. So kam er, wie andere „Aussteiger“, in den Genuss der Kronzeugenregelung, die bei Mord anstelle der lebenslangen eine zeitige Freiheitsstrafe ermöglicht.

NJW: Welchen Stellenwert für die strafrechtliche Aufarbeitung der bislang noch unaufgeklärten Verbrechen könnte die Verhaftung von Daniela Klette aus Ihrer Sicht haben?

Pflieger: Klette war wohl ab 1983 bei den Illegalen der RAF und an mehreren Terroranschlägen beteiligt. Sie könnte deshalb – so sie zu Aussagen bereit ist – dazu beitragen, dass die Geschichte der 3. RAF-Generation und vor allem Einzelheiten von Mordanschlägen aufgeklärt werden.

NJW: Hätte der Staat in der Vergangenheit mehr unternehmen können oder gar müssen, um hier Licht ins Dunkel zu bringen?

Pflieger: Aus meiner subjektiven Sicht hat der Staat alles Erforderliche unternommen, ohne zum „Polizeistaat“ zu werden. Dass die RAF 1998 ihre Auflösung erklärt und dabei formuliert hat: „Das Ende dieses Projekts zeigt, dass wir auf diesem Weg nicht durchkommen konnten“, ist aus meiner Sicht das größtmögliche Kompliment an unseren Rechtsstaat.

NJW: Sie selbst plädieren seit vielen Jahren für einen Straferlass für verurteilte RAF-Terroristen. Welche Überlegungen stehen hinter diesem Vorschlag, und was versprechen Sie sich davon?

Pflieger: Vor allem für Angehörige von Opfern der RAF ist es nur schwer zu ertragen, dass ungeklärt ist, wer für die einzelnen Mordattentate verantwortlich ist. So hat der Sohn des ermordeten Generalbundesanwalts Buback erklärt, dass er nicht an einer Bestrafung der Tat interessiert ist, sondern nur daran zu erfahren, wer die Täter sind. 1990 hat der damalige Generalbundesanwalt Rebmann entschieden, dass RAF-Mitglieder, die bereits zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt sind, nur dann erneut angeklagt werden, wenn sie an einem weiteren Mord unmittelbar beteiligt waren. Um Mordgeständnisse zu erleichtern, plädiere ich dafür, sogar bei einer unmittelbaren Mordbeteiligung nach § 154 StPO von der Strafverfolgung abzusehen. Meine Sorge ist, dass wir sonst die historische Wahrheit nie erfahren werden.

NJW: 2007 sollte mit Christian Klar einer der führenden Köpfe der RAF der ersten Generation vom damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler begnadigt werden. Sie waren dagegen. Weshalb?

Pflieger: Klar wollte nach 24 Jahren begnadigt werden, obwohl das OLG Stuttgart eine Mindestverbüßungszeit von 26 Jahren festgelegt hatte. Die Gnadenordnungen der Bundesländer, auf Bundesebene gab es keine solche, sehen vor, dass ein derartiger Gnadenakt nur dann gewährt wird, wenn sich eine Gerichtsentscheidung nachträglich als korrekturbedürftig erweist. Dies war bei Klar nicht ansatzweise der Fall. Für mich kam hinzu, dass ein „normaler“ Mörder unter gleichen Bedingungen nicht begnadigt worden wäre, Klar also eine Sonderbehandlung erfahren hätte. Letztlich hat der Bundespräsident eine Begnadigung Klars abgelehnt.

NJW: Sie waren während Ihrer aktiven Dienstzeit auch für Ermittlungen im Zusammenhang mit Mordanschlägen des NSU zuständig. Auch in diesem Komplex gab es Kritik an der Arbeit der Strafverfolgungsbehörden. Zu Recht?

Pflieger: Das Hauptproblem war aus meiner Sicht, dass bei den „Döner-Morden“ des NSU und beim Mord an der Polizeibeamtin Kiesewetter, der während meiner Zeit als Generalstaatsanwalt in Stuttgart in meinem Zuständigkeitsbereich verübt wurde, zunächst kein terroristischer Hintergrund erkennbar war, weil die bei Terrortaten oft versandten Bekennerschreiben fehlten. Erst mit dem Tod der beiden NSU-Männer Bönhardt und Mundlos sowie dem von Beate Zschäpe versandten „Paulchen-Panther-Video“ wurde der Terrorbezug sichtbar.

NJW: Was macht terroristische Strafverfahren so schwierig?

Pflieger: Terroristische Ermittlungsverfahren sind in der Regel schwierig, da die Täter besonders verdeckt agieren und kaum kriminaltechnisch verwertbare Spuren verursachen. Terroristische Prozesse waren für mich oft nicht einfach, weil die Angeklagten die Hauptverhandlung für Angriffe auf den Staat missbrauchen und Rechtsanwälte in ihrem Auftrag die StPO für eine „Konfliktverteidigung“ nützen wollten.

NJW: Welche Lehren lassen sich daraus für den künftigen Umgang mit rechtsextremistischem, linksextremistischem und islamistischem Terror ziehen?

Pflieger: Wir sollten alle zulässigen Register ziehen, um Terroranschläge zu vermeiden und – falls sie nicht zu verhindern sind – der Täter umgehend habhaft zu werden. In den Strafverfahren sollten wir die Beschuldigten, die sich oft als Kriegsgegner verstehen, auf das reduzieren, was sie strafrechtlich sind: Verbrecher.

NJW: Wie schätzen Sie die aktuelle terroristische Bedrohungslage ein?

Pflieger: Trotz der Bedrohungen durch rechten Terror (etwa Reichsbürger) und der Gefahrenlagen im linksextremistischen Bereich halte ich den islamistischen Terror für den gefährlichsten, weil er sich nicht gegen prominente Ziele richtet, sondern möglichst hohe Opferzahlen und eine Verunsicherung der Allgemeinheit anstrebt.

Als Staatsanwalt und Mitarbeiter der Bundesanwaltschaft war Klaus Pflieger insbesondere zuständig für Strafverfahren gegen Mitglieder der Terrororganisation Rote Armee Fraktion (RAF). 1995 wurde er zum Leiter der Staatsanwaltschaft Stuttgart ernannt, im Juli 2001 zum württembergischen Generalstaatsanwalt. Bereits während seiner aktiven Dienstzeit hat er zur Geschichte und den Verbrechen der RAF publiziert; 2016 erschienen seine Memoiren über die Arbeit in der Terrorismusbekämpfung.

Dieser Beitrag stammt aus der NJW. 

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Interview: Tobias Freudenberg / Monika Spiekermann.