Interview
"Laufendes Verfahren"
© Jessica Schäfer

Das NSU-Verfahren gilt als der wichtigste Strafprozess seit der Wiedervereinigung und der bislang umfangreichste, der in Deutschland gegen Neonazis geführt wurde. Die Schriftstellerin Kathrin Röggla hat ihn über einen längeren Zeitraum verfolgt und ihre Beobachtungen in einem Roman verarbeitet. Wir wollten von ihr wissen, was sie an dem Verfahren literarisch besonders interessiert hat und wie sie nun den Rechtsstaat sieht.

 

13. Mrz 2024

NJW: Wie und wann entstand die Idee, den NSU-Prozess in einem Roman literarisch zu verarbeiten?

Röggla: Eigentlich nach dem ersten Besuch im Gericht im Spätwinter 2017.

NJW: Wie viele Verhandlungstage haben Sie miterlebt? Und haben Sie schon zuvor Gerichtsverfahren live verfolgt, oder war es Ihr erstes Mal?

Röggla: Ich war in sehr vielen Verhandlungen, da ich dazu schon seit 2015 was schreiben wollte. Insofern hat es mich etwas gepackt, dieses Verfahren zu erleben, da es schon sehr anders wirkte. Ich lebte damals in Berlin und reiste ab Februar 2017 bis Frühjahr 2018 so oft ich konnte nach München, das war leider nur so ca. 15 bis 20 Mal; manchmal stand ich da, und es war bereits nach zehn Minuten Schluss. Ich führte aber zahlreiche Gespräche rundherum und las natürlich jede Menge. Der späte Zeitpunkt meines Auftauchens ist sicherlich wesentlich gewesen für die Struktur des Romans, denn die Stimmung im Gerichtssaal war da ja schon sehr schwierig geworden.

NJW: Was an den Prozeduren des Strafverfahrens hat Sie literarisch besonders interessiert?

Röggla: Ich bin mit der Lektüre von Cornelia Vissmanns "Medien der Rechtsprechung" ins Gericht gegangen. Sie macht als Kulturwissenschaftlerin und Juristin auf das theatrale Dispositiv im Gericht aufmerksam, zeichnet seine mediale Geschichte nach. Also haben mich die sozialen und verfahrenstechnischen Fragen sehr fasziniert, die danach, was das überhaupt für ein gesellschaftlicher Raum ist. Welche Riten und Vereinbarungen gibt es dort? Wie funktioniert Wahrheitsfindung? Und dann natürlich die Frage der Autonomie, die ja in einem starken Spannungsverhältnis zu dem politischen Versprechen stand, das die Kanzlerin in Bezug auf den NSU den Angehörigen der Opfer und den Überlebenden gegeben hat.

NJW: Und auf welche Verfahrensbeteiligten haben Sie sich konzentriert?

Röggla: Mich hat die Funktion der Nebenklägerinnen und -kläger sehr interessiert, mit ihnen habe ich sicher am meisten zu tun gehabt, die befanden sich in einer interessanten Spannung zur Bundesanwaltschaft. Aber auch die Strafverteidigung – eigentlich deren Zusammenspiel. Der Fokus meines Textes liegt allerdings bei den Gerichtsbeobachtern, die strenggenommen ja keine Beteiligten sind, aber die setzen sich ja stets mit den Positionen auseinander. Sie streiten um das Funktionieren des Gerichts.

NJW: Diese Beobachter und die weiteren Akteure sind durchweg namenlos, sie heißen der "Tätervater" oder "Gerichts-Opa". Anwälte bezeichnen Sie etwa als "Erklärburschen erster Güte" bzw. "O-Ton-Juristen". Das klingt nach wenig Sympathie für die Personen.

Röggla: Die Frage nach den Figuren ist zunächst eine Frage nach der Erzählinstanz, die diese Figuren ja benennt. Und diese ist ein merkwürdig erzählendes Wir, das sich gar nicht so gut auskennt und doch alles vorherzusehen scheint – es ist ja auch nicht als ein abgeschlossener Prozess, sondern als kommender, sich eben vollziehender erzählt. Dieses Wir ist in Bewegung, es ist naiv, gespenstisch und schließlich kränkelnd und wird "kleiner". Immer weniger ist klar, wer zu diesem Wir gehört. Es ist also nicht als mein Alter-Ego zu betrachten, wie das ein Kritiker gemacht hat, ein Alter-Ego, das am besten sympathisch, allwissend und kritisch über den Prozess berichten könnte, sondern eine fiktive Instanz, die letztendlich aus der Problematik selbst zu erwachsen scheint.

NJW: Welche Rolle bzw. welche Position nehmen Sie in diesem "Wir" ein?

Röggla: Vielleicht muss ich an dieser Stelle etwas ausholen: Es handelt sich hier nicht um einen Dokumentarroman des NSU-Prozesses mit Klarnamen, auch wenn ich mit dem Material arbeite, das ja schon schwer wiegt in diesem Text. Da hinein jetzt eine fiktive heroische und allwissende Aktivistin ins Zentrum zu stellen, fand ich angesichts der realen Problematik nicht geboten. Mir war zudem klar, dass ich meine Haltung auch reflektieren muss. So gehöre ich genau zu diesem merkwürdigen Teil der Mehrheitsgesellschaft, der wider besseres Wissen die Augen verschlossen und die Geschichte der "Dönermorde" erst einmal akzeptiert hat. Dazu kommt, dass das Wissen, das der Prozess produziert hat, zwar viel wert war, aber sich in einem merkwürdigen Verhältnis zu dem großen, immer noch bestehenden Nichtwissen über den NSU-Komplex befindet. Und dieses hat sich auch während des Prozesses gezeigt. Es war schließlich ein Verfahren, in dem viel von vielen Seiten geschwiegen wurde. Mein Roman will diese Problematik mit einer weiteren Frage verbinden, nämlich nach dem Wir, sie reicht über den Prozess hinaus. Es wird ja im Namen des Volkes geurteilt, wir haben ein Kollektiv im Gerichtssaal, wir haben eine Mehrheitsgesellschaft, die nicht in der Lage war, die eigenen Minderheiten zu schützen, und wir haben gesellschaftlich gesehen den Kollektivgedanken weitgehend den Rechten überlassen. "Wir?" ist die eigentliche Frage. Dass dieses Wir so gespenstisch spricht, aus den Figuren diese Typen macht, soll es ja auch in Frage stellen. Es ist ein ironisches distanziertes Sprechen, das eine gewisse Gestörtheit transportiert, so wie der Lehrer in "Die tote Klasse" von Tadeusz Kantor oder das Brüderpaar in Agota Kristofs "Das große Heft". Diese merkwürdige Mächtigkeit des Wirs wird ja mehr und mehr auch im Text auseinandergenommen.

NJW: Gab es von Verfahrensbeteiligten eine Reaktion auf Ihren Roman?

Röggla: Ich habe das Buch vor dem Druck zwei verfahrensbeteiligten Anwältinnen gegeben und zwei Anwälten, die den Prozess gut von außen her kannten, zudem hat mich eine Staatsanwältin, die in einem Untersuchungsausschuss ausgesagt hat, bei der Theaterversion unterstützt. Ich wollte sichergehen, dass ich nicht unwillentlich Narrative bestärke, die ich eben nicht stützen will. Oder Sachen schlicht grob falsch sind. Die Reaktionen waren relativ positiv, ich bekam dann nochmal nach den Kritiken Meldung, da war man sehr erstaunt, was da angebracht wurde. Ich habe auch versucht, Kontakt zu den Angehörigen herzustellen, aber 2017 waren sie daran nicht mehr sehr interessiert.

NJW: Haben Sie sich für den Roman juristisch beraten lassen?

Röggla: Ich weiß nicht, wie man darüber schreiben sollte, ohne sich beraten zu lassen. Es war ja schon vieles überhaupt nicht gut zu verstehen. Außerdem arbeite ich immer so – ich hole mir im Gespräch die Erfahrung und das Wissen anderer. Insofern war ich in engem Austausch mit Juristinnen.

NJW: Sie schreiben, man könne insbesondere in den historischen Prozessen sehen, was in einem Land geschehe. Inwiefern trifft das auf den NSU-Prozess zu?

Röggla: Bei so vielen Zeugenbefragungen, die ja bis in die Nach- und sogar Vorwendezeit reichten, war das schon sehr erhellend, was man da zu hören bekam. Zudem konnte man sehr viel über polizeiliche Arbeit und das Zusammen- oder Nichtzusammenarbeiten von Institutionen erfahren.

NJW: Welches Bild hatten Sie vor dem NSU-Prozess vom Rechtsstaat, und hat es sich im Laufe des Verfahrens verändert?

Röggla: Ich war schockiert über diese institutionelle Struktur des Nichtwissens, der Schlamperei und einer Ermittlungsarbeit, die sogar Wahrsager konsultiert, um sich die eigenen rassistischen Vorurteile zu bestätigen. Das Gericht selbst funktionierte – aber es kann die demokratiesichernde Arbeit nicht alleine machen. Der Verfassungsschutz hat sich im NSU-Komplex als absolut dysfunktional erwiesen. Es ist gut, dass es eine so große Öffentlichkeit gab, die ja nun auch andere Prozesse besucht. Das Gericht ist eine wesentliche Säule unserer Demokratie.

Die vielfach ausgezeichnete österreichische Schriftstellerin Kathrin Röggla studierte Germanistik und Publizistik in Salzburg und Berlin, schloss beide Studiengänge jedoch nicht ab. Literarisch in Erscheinung getreten ist sie erstmals 1988. Sie ist stellvertretende Präsidentin der Berliner Akademie der Künste sowie Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Ihr Roman „Laufendes Verfahren“ ist 2023 im S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., erschienen.

Dieser Inhalt ist zuerst in der NJW erschienen. Sie möchten die NJW kostenlos testen? Jetzt vier Wochen gratis testen inkl. Online-Modul NJWDirekt.

Interview: Tobias Freudenberg/Monika Spiekermann.