Interview
Im Sog der Digitalisierung
Interview
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Die Justiz steht unter Digitalisierungsdruck – in dieser Analyse sind sich alle einig. Ebenso besteht Konsens darüber, dass es mit der Einführung der elektronischen Akte nicht getan sein wird. Was aber ist mit den begrenzten Ressourcen noch zusätzlich und kurzfristig möglich? Hierüber haben wir mit Eckard Schindler von IBM gesprochen, der hierzu eine Studie durchgeführt hat und justizielle Digitalisierungsprojekte betreut.

6. Jan 2023

NJW: Wie bewerten Sie als IT-Experte eines globalen Tech-Unternehmens den aktuellen Stand der Digitalisierung in der Justiz?

Schindler: Darauf habe ich zwei Sichten. Die eine ist positiv. Wenn man die Justiz mit anderen Ressorts ­vergleicht, stellt man fest, dass sie in den letzten 15 bis 20 Jahren einiges richtig gemacht hat. Es gab einen sehr konkreten Plan für den elektronischen Rechtsverkehr und die E-Akte, der sogar gesetzlich vorgeschrieben wurde. Und dieser Plan wird ja seitdem auch umgesetzt. Gleichzeitig hat man die Verfahrenslandschaft im Vergleich mit anderen Bereichen schon sehr stark vereinheitlicht. Entwicklungsverbünde werden beispielsweise außerhalb der Steuer im Öffentlichen Sektor nicht in dem Maß praktiziert wie bei der Justiz.

NJW: Was steht auf der Sollseite?

Schindler: Die Justiz ist mit ihrem Plan inzwischen aus der Zeit gefallen. Man hat für die Umsetzung einen Zeitplan vorgesehen, der viel zu großzügig bemessen wurde. Und weil man dachte, dass man ja eigentlich ­alles gut geplant habe, hat man auf die Entwicklungen während der Umsetzung des elektronischen Rechts­verkehrs nicht mehr geachtet. Man hat nicht darauf ­reagiert, dass die Digitalisierung viel schneller voranschreitet, als man das erwartet hat. Man hat ignoriert, dass Digitalisierung in der Gesellschaft heute so omnipräsent ist, dass die bisherigen Planungen die Erwartungen an eine digitale Justiz längst nicht mehr erfüllen kann. Sie hat den Anschluss verloren. Interessant ist: Eigentlich haben das alle gewusst, aber erst nachdem die Defizite in der Pandemie offen zutage getreten sind, bewegte sich etwas.

NJW: Sie haben für die Studie Interviews mit Präsidenten und Vizepräsidenten der Gerichte geführt. Wie ist deren Sicht auf die aktuelle Situation?

Schindler: Mich hat überrascht, welche Relevanz Digitalisierung bei den Gesprächspartnern hat. Sie haben alle unisono gesagt, dass sie die Bedeutung des ­Themas für ihre Organisation erkannt haben. Das ist außerhalb der Justiz bei Führungspersonen nicht so verbreitet. In Unternehmen wird dann häufig auf die IT verwiesen. Dass und wie die Digitalisierung auch das Kerngeschäft betrifft, wird unterschätzt. Den Präsidentinnen und Präsidenten ist sehr bewusst, dass die Digitalisierung jetzt auch die juristische richterliche Tätigkeit im Kern betrifft, und nicht mehr nur die EDV oder die Servicestelle. Aufgrund dieser Erkenntnis will die Richterschaft jetzt auch viel stärker mitmischen und fordert eine gewichtige Rolle in einer künftigen Governance ein.

NJW: Was sind aus Ihrer Sicht die maßgeblichen Gründe dafür, dass wir bisher nicht weiter sind?

Schindler: Einer der Gründe ist sicher, dass sich die Justiz aufgrund ihres Plans für den elektronischen Rechtsverkehr etwas isoliert hat. Mit den Modernisierungsbestrebungen der Innenressorts, wie zum Beispiel auch dem Onlinezugangsgesetz, wollte man im Grunde nichts zu tun haben. Das führte unter anderem auch dazu, dass die vom Bund im Rahmen der Pandemie aufgesetzten Digitalisierungsprogramme praktisch an der Justiz vorbeigegangen sind. In den Ländern war für IT in der Justiz auch immer zu wenig Geld eingeplant. Das fällt deutlich auf, wenn man sie etwa mit den Bereichen Steuern und Inneres/Polizei vergleicht, wo die Investitionsbereitschaft der Länder im Verhältnis deutlich größer ist. Und schließlich gibt es vor ­allem große Steuerungsprobleme. Auch in den Verbünden spielen Individualinteressen eine große Rolle. Der ­Föderalismus entfaltet hier tatsächlich eine deutliche Bremswirkung.

NJW: Der Titel Ihrer Studie lautet: Unter Digitalisierungsdruck. Ist er förderlich für Veränderungen oder führt er zur Abwehrhaltung und Überforderung?

Schindler: Die Justiz nimmt diesen Druck sehr klar wahr. In unserer Studie sagen 87 %, dass er deutlich stärker ist als noch vor drei Jahren. Er kommt von ­außen, zum Beispiel durch den demographischen Wandel und die Transformation des Rechtswesens etwa durch Legal-Tech-Anbieter. Auch die Erwartungshaltung der Bürgerinnen und Bürger ist ein Druckpunkt. Wichtiger ist aber der Druck von innen: Die Richterschaft fordert jetzt selbst Digitalisierung mit Nachdruck ein. Und um die Frage klar zu beantworten: Druck ist aus meiner Sicht wichtig, damit sich schnell etwas verändert.

NJW: Was wäre denn jetzt dringlich zu tun, um die ­Digitalisierung der Justiz rasch voranzubringen?

Schindler: Wir haben in unserer Studie ein 10-Punkte-Programm für die Justiz auf dem Weg ins digitale Zeitalter vorgeschlagen. Zwei Dinge möchte ich davon hervorheben: Die Justiz sollte eine Vielzahl kleinerer Digitalisierungsprojekte aufsetzen, die in der Praxis einsetzbar sind und die zeigen, welche Vorteile Digitalisierung bietet. Das können KI-gestützte Tools sein, wie IBM sie für das OLG Stuttgart zur Bewältigung der Diesel-Massenklagen entwickelt hat. Oder aber auch Vorschläge, wie sie kürzlich beim eJustice Cup Hessen aus der Richterschaft vorgebracht wurden: Lösungen, die bei der Terminierung unterstützen, interaktive Pkh-Formulare oder ein Programm zum Vergleich von standardisierten Schriftsätzen in Massenverfahren. Solche Schnellboote würden das Fahrwasser am Laufen halten, weil sie dem verstärkten Ruf nach Digitalisierung begegnen und den Akteuren erste positive Nutzungserfahrungen vermitteln.

NJW: Führte das aber nicht zu einem Wildwuchs an kleinteiligen Lösungen?

Schindler: In so einer explorativen Phase würde ich eine solche Vielfalt unbedingt zulassen. Mit Konsolidierung und Standardisierung kann man sich später befassen. Zumal wir heutzutage in einer IT-Welt offener und interoperabler Architekturen unterwegs sind, in der IT-Komponenten viel besser miteinander kommunizieren können. Bei ­alledem dürfen die dicken Bretter, die gleichzeitig zu bohren sind, natürlich nicht vernachlässigt werden.

NJW: Welche sind das?

Schindler: Natürlich muss die E-Akte so schnell wie möglich eingeführt und schrittweise die länderübergreifende Zentralisierung der IT-Betriebsinfrastruktur der Justiz vorangebracht werden. Das dickste Brett ist und bleibt aus meiner Sicht die Governance, also die Steuerung des Ganzen. Es fehlt an den notwendigen Entscheidungsmechanismen. Wir erleben die Bund-Länder-Kommission nicht als zielführendes Entscheidungsgremium im Sinne von Geschwindigkeit und Innova­tionskraft. Auch der E-Justice-Rat ist ein Konsens- und kein Führungsgremium, in dem beispielsweise Strategien der Digitalisierung richtungsentscheidend festgelegt werden. Bei ihrer Gründung waren das die richtigen Gremien, jetzt passen sie nicht mehr in die Zeit.

NJW: Was sollte an ihre Stelle treten?

Schindler: Es müssen Entscheidungsbefugnisse der Digitalisierung an einer Stelle gebündelt werden, etwa bei einem CIO der Justiz mit seinem Stab. Dessen Entscheidungen dürfen nicht mehr in der Breite abgestimmt werden müssen. Das muss sich gar nicht mit ­föderalen Strukturen beißen, weil die Länder in Ver­trägen Kriterien festlegen können, nach denen die zentrale Stelle Entscheidungen trifft. So was geht natürlich nicht von heute auf morgen. Erstmal eingerichtet, könnte man sie damit beauftragen, eine neue Governance-Struktur zu entwickeln, und ihr zunächst nur begrenzte Entscheidungsbefugnisse geben, die dann sukzessive ausgebaut werden.

NJW: Was macht Sie optimistisch, dass es jetzt schneller vorangeht als bisher?

Schindler: Der Wille zur Veränderung ist bei allen ­Akteuren jetzt viel ausgeprägter als noch vor ein paar Jahren. Ich bin zuversichtlich, dass dieses Momentum – auch aufgrund des oben beschriebenen Drucks – ­genutzt wird.

 

Eckard Schindler ist Direktor der IBM Deutschland für den Öffentlichen Sektor und arbeitet weltweit mit Kunden und Partnern an der digitalen Transformation der Justiz. Zu seinen jüngsten Projekten gehören am AG Frankfurt a. M. ein Konfigurator namens „Frauke“, der in Fluggastrechteklagen auf Basis bisheriger Rechtsprechung Entscheidungsvorschläge unterbreitet, und am OLG Stuttgart „Olga“, eine Software, die bei Diesel-­Klagen eine Kategorisierung ähnlich gelagerter Ver­fahren durchführt.

Dieser Inhalt ist zuerst in der NJW erschienen. Sie möchten die NJW kostenlos testen? Jetzt vier Wochen gratis testen inkl. Online-Modul NJWDirekt

Interview: Tobias Freudenberg.