NJW-Editorial
Im Interesse der Kinder
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Stellen Sie sich einen Elternteil vor, der seinen Kindern beim Umgang zuerst einmal den Mund mit Seife auswäscht oder sie stundenlang vor ihrem Essen sitzenlässt, wenn es nicht schmeckt, und ihnen noch verbleibende Reste anschließend mit Gewalt in den Mund stopft. Oder einen Elternteil, der seine Kinder mit Kopfnüssen traktiert und sie 30 Minuten und länger mit erhobenen Armen knien lässt, wenn sie die Note 2 nach Hause bringen. Herbstliche Gruselgeschichten? Nein, trauriger Alltag beim Familiengericht.

13. Okt 2022

Entzieht es in diesen Fällen wegen des kindeswohlgefährdenden Verhaltens die elterliche Sorge oder schließt den Umgang aus, muss das Beschwerdegericht seit dem letzten Jahr alle Verfahrensschritte wiederholen, auch wenn das Familiengericht noch so sorgfältig gearbeitet hat und die Beschwerde noch so unbegründet ist. Außerdem muss das Kind erneut persönlich angehört werden, und ist es dafür noch zu klein, muss sich das Beschwerdegericht einen persönlichen Eindruck von ihm verschaffen, selbst wenn das Familiengericht dies bereits getan und gründlich dokumentiert hat. In der Regel fassungslose Pflegeltern treten dann mit ihrem kleinen Pflegekind im OLG an, damit es dort (erneut) in Augenschein genommen werden kann. Beschwerdeverfahren verlängern sich dadurch deutlich.

Nicht umsonst gilt jedoch in Verfahren, in denen es um den Aufenthalt von Kindern oder das Umgangsrecht geht, im Interesse der Kinder ein Vorrang- und Beschleunigungsgebot. Dieses wird durch die zwingende Wiederholung aller Verfahrensschritte durch das OLG konterkariert, und zwar auch in den nicht seltenen Fällen einer ersichtlichen Aussichtslosigkeit der Beschwerde. Kinder, die zu ihrem Schutz von ihrer Familie getrennt werden mussten oder die aus gutem Grund einen Elternteil nicht mehr treffen müssen, haben dadurch eine weitere Zeit der Unsicherheit zu ertragen. Noch in Bereitschaftspflege befindliche Kinder entwickeln Bindungen zu ihren Pflegeeltern, bei denen sie nach dem hinausgezögerten Verfahrensabschluss aber nicht bleiben können.

Familiensenate reagieren mittlerweile auf diese erhebliche Zusatzbelastung, für die im Übrigen kein Ausgleich erfolgte, indem sie die maßgeblichen Vorschriften „teleologisch reduzieren“, wogegen allerdings Bedenken erhoben werden. Oder verweisen die Verfahren, wenn möglich, an das Amtsgericht zurück, was zu einer weiteren Verlängerung führt. Bei der Neuregelung stand die Aufdeckung möglicher Missbrauchsfälle im Fokus, Stichwort: Staufen. Über dieses Ziel ist der Gesetzgeber aber deutlich hinausgeschossen. Es ist im Interesse der Kinder dringend notwendig, dass er selbst korrigierend eingreift. Denn sonst fehlt den Familiensenaten am Ende die Zeit, dort genauer ­hinzusehen, wo es nötig wäre, und genau das Gegenteil des beabsichtigten Zwecks tritt ein.

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Prof. Dr. Isabell Götz ist Vorsitzende Richterin am OLG München und​ Vorsitzende des Deutschen Familiengerichtstags.