NJW-Editorial
Im Abseits der Rechtsgemeinschaft
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Das EU-Recht hat Vorrang vor dem mitgliedstaatlichen Recht. An diesem Prinzip gibt es nichts zu rütteln. Seine Begründung ist einleuchtend und unspektakulär pragmatisch: Die Rechtsgemeinschaft kann nicht funktionieren, wenn ihr Recht im Konfliktfall hinter dasjenige eines jeden Mitgliedstaates zurücktreten muss.

3. Nov 2021

Das polnische Trybunał Konstytucyjny hat am 7.10. 2021 gegen dieses Prinzip aufbegehrt. Und es macht keine halben Sachen: Art. 1 EUV, wonach der Vertrag eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas darstellt, soll aufgrund einer Art generellen Ultra-vires-Vorbehalts gegen einzelne Bestimmungen der polnischen Verfassung verstoßen, wenn deren Vorrang nicht beachtet wird. So ähnlich fing auch das Brexit-Jahr 2016 an, als David Cameron die „immer engere Union der Völker Europas“ wegverhandelt hatte. Nachrangig sein sollen auch Art. 2 EUV (Rechtsstaatsprinzip) und Art. 19 I UAbs. 2 EUV (Rechtsschutz durch mitgliedstaatliche Gerichte). So richtig gut nachvollziehen lässt sich die Argumentation nicht: Mehr als den Tenor hat das Gericht nicht ins Englische übersetzt, nicht einmal die Pressemitteilung, und selbst die polnische Öffentlichkeit muss sich mit dieser Pressemitteilung in Landessprache begnügen; die Urteilsgründe werden nicht mitgeteilt.

Das ist kein Zufall. Es geht dem Trybunał nicht um eine einzelne Streitfrage, und es geht auch nicht darum, ein Kontrolldefizit im Institutionengefüge der EU durch mitgliedstaatliche Verfassungsrechtsprechung zu kompensieren. Dass es missbräuchlich ist, wenn sich die polnische Regierung auf das PSPP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts beruft, wurde schon vielfach nachgewiesen. Zahlreiche ehemalige polnische Verfassungsrichter und der rechtswissenschaftliche Ausschuss der polnischen Akademie der Wissenschaften haben überdies schonungslos offengelegt, dass sich das Urteil auch nach polnischem Verfassungsrecht nicht halten lässt. Nein, es ist viel schlimmer: Die Partei PiS hat nach ihrem Wahlsieg 2015 erst den Verfassungsgerichtshof auf ihre Linie gebracht und hebelt nun auch die unabhängige Justiz im Übrigen aus. Die EU ist die einzige Instanz, die sich dieser beispiellosen Verstümmelung rechtsstaatlicher Institutionen in einem Mitgliedstaat mit allen ihren Möglichkeiten entgegenstemmt. Dem soll nun wohl ein Riegel vorgeschoben werden.

Kaczyński und seine willfährigen „Verfassungsrichter“ haben überzogen. Die EU kann und muss die vorhandenen finanziellen Sanktionsinstrumente nutzen. Wahrscheinlich ist dies der einzige Weg, eine Entwicklung umzukehren, die ein partnerschaftliches Miteinander unmöglich macht – und diese Partnerschaft ist Deutschland seit Helmut Kohl ein Herzensanliegen.

Prof. Dr. Matthias Ruffert lehrt Öffentliches Recht und Europarecht an der Humboldt-Universität zu Berlin.