NJW-Editorial
Ignorante Selbstblockade
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Justitia stöhnt. Die Waage, welche die Dame pflichtbewusst und beharrlich hochhält, sinkt zuweilen danieder. Und immer wieder in diesem Zusammenhang der Ruf nach personeller Verstärkung, lautstark wo auch immer erhoben. Es wird gejammert in der Hoffnung auf externe Erlösung. Gerade im Bereich des Strafrechts wird so etwas wahrgenommen. Ob der Ruf zu Recht oder zu Unrecht erschallt, kann dabei erst einmal dahinstehen.  Ihre vermeintlich knappen Ressourcen blockiert die Justiz bisweilen auch selbst – und das völlig unnötig.

7. Jul 2022

Dann nämlich, wenn gesetzlich (!) vorhandene Möglichkeiten schlichtweg negiert werden. Die Rede ist vom Steuerstrafrecht im Schnittbereich zum Steuerrecht. An eben diesem Punkt kann es geschehen, dass der Fall steuerlich noch völlig offen ist, während die Strafjustiz vorprescht und den Betroffenen (vor-)verurteilt. ­Steuerhinterziehung ohne Steuerverkürzung statt Mord ohne Leiche.

Zwar wird immer wieder hervorgehoben, das Strafrecht sei Annex des Steuerrechts. Andere sprechen von Akzessorietät. Die Praxis lebt es umgekehrt. Gerade in Steuerstrafverfahren stellen die Strafverfolger diese reine Lehre auf den Kopf. Hier werden die handelnden Personen schnell zu Tätern und gerne schon einmal strafrechtlich sanktioniert, ohne dass dies auf einer gefestigten steuerlichen Basis geschieht. In ihrem Bemühen um die „Reinheit der Welt“, hier im Speziellen der Steuerwelt, überziehen die Strafverfolger in einer déformation professionelle das Maß der Dinge. Nein, kein Einzelfall. Es gab und es gibt Fälle, auch Großverfahren, wo der strafrechtliche Erledigungseifer überhandnimmt.

Angesichts der vielfach beklagten Überlastung der Justiz reibt man sich die Augen. Denn hier existiert in § 396 AO eine durchdachte gesetzliche Lösung. Dort nämlich heißt es: Wenn die Beurteilung der Tat als Steuerhinterziehung davon abhängt, ob ein Steueranspruch besteht, ob Steuern verkürzt oder ob nicht gerechtfertigte Steuer­vorteile erlangt sind, so kann das Strafverfahren ausgesetzt werden, bis das Besteuerungsverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist. Wichtig: Während der Aussetzung des Verfahrens ruht die Verjährung. Der Zweck der Regelung liegt darin, widersprüchliche Entscheidungen bei der Anwendung des Steuerrechts im Besteuerungs- und im Steuerstrafverfahren zu vermeiden.

Justitia trägt eine Binde. Aus gutem Grund. Aber solange solche Regelungen als eine Art terra incognita „blind“ links liegen gelassen werden, kann man das pauschale ­Jammern in diesem Bereich auch nicht (ganz so) ernst nehmen.

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Prof. Dr. Peter Bilsdorfer ist Rechtsanwalt in Saarbrücken und Präsident des FG a.D.