Urteilsanalyse
Hinzuziehung eines Prozessbevollmächtigten im Vorverfahren bei offenkundig falscher Tatsachenbasis nicht notwendig
Urteilsanalyse
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Die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren besteht laut VG Berlin nicht, wenn ein Bescheid offenkundig von falschen Tatsachen ausgeht, der Adressat die Unrichtigkeit aber selbst ohne Weiteres durch Hinweis auf die wirkliche Sachlage ausräumen kann (hier: Untersagung der Gewerbe-Fortführung in fehlerhafter Annahme der Behörde, frühere Gewerbeuntersagung – die auf Antrag des Adressaten im Rahmen eines Wiedergestattungsverfahrens aufgehoben wurde – bestehe fort).

26. Nov 2021

Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Hans-Jochem Mayer, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Bühl

Aus beck-fachdienst Vergütungs- und Berufsrecht 23/2021 vom 25.11.2021

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Sachverhalt

Dem Kläger wurde mit (bestandskräftigem) Bescheid vom 11.02.2003 die Ausübung des Gewerbes «Eventveranstalter, Messebau» sowie jede weitere Gewerbetätigkeit verboten, die dem Anwendungsbereich des § 35 GewO unterliegt. Hintergrund waren erhebliche Steuerrückstände des Klägers. Im Dezember 2020 meldete der Kläger ein Gewerbe zum Einzelhandel mit Lebensmitteln an. Das Bezirksamt forderte den Kläger daraufhin auf, die angezeigte Gewerbetätigkeit sofort einzustellen und abzumelden und drohte zugleich ein Zwangsgeld von 5.000 EUR für den Fall der Nichtbefolgung an. Es berief sich dabei auf die unanfechtbare Gewerbeuntersagung von 2003. Der Kläger schaltete einen Anwalt ein, der Widerspruch einlegte und das Bezirksamt darauf hinwies, dass der Untersagungsbescheid von 2003 bereits 2014 im Rahmen eines Wiedergestattungsverfahrens aufgehoben worden war. Daraufhin hob das Bezirksamt seinen Bescheid auf. Die Kosten des Widerspruchsverfahrens trug danach das Land Berlin, wobei die Hinzuzuziehung eines Rechtsanwalts nicht als notwendig angesehen wurde. Dagegen wandte sich der Kläger mit seiner Klage.

Entscheidung: Kläger war Hinweis auf Fehler ohne Anwalt zumutbar

Die Klage hatte keinen Erfolg.

Maßgebend für die Beurteilung der Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren sei, ob sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen Sachlage eines Rechtsanwalts oder eines Bevollmächtigten bedient hätte. Gemessen daran sei die Zuziehung eines Bevollmächtigten hier nicht notwendig gewesen. Dem Ausgangsbescheid lasse sich bereits für einen durchschnittlichen Adressaten unmittelbar entnehmen, was die Behörde verlangt habe und auf welche Umstände sie ihre Forderung nach einer umgehenden Einstellung der neu aufgenommenen Gewerbetätigkeit gestützt habe. Gleichermaßen offenkundig sei die hier dem Kläger bekannte Tatsache gewesen, dass die Wiedergestattung von 2014 offensichtlich keine Berücksichtigung mehr gefunden hatte und der Bescheid somit von falschen tatsächlichen Voraussetzungen ausging. Die Relevanz der Wiedergestattung für das hiesige Verfahren habe sich wiederum unmittelbar dadurch erschlossen, dass der im Ausgangsbescheid genannte Gewerbeuntersagungsbescheid von 2003 darin ausdrücklich aufgehoben worden war. Damit habe es sich für den Kläger aufdrängen müssen, dass das Bezirksamt hier offenkundig von falschen Tatsachen ausging. Auch vor dem Hintergrund, dass der Kläger die Wiedergestattung selbst beantragt habe, er daraufhin wieder gewerblich tätig geworden sei und dies auch in seiner Gewerbeanmeldung zugrunde gelegt habe, erscheine es für ihn rückblickend ohne weiteres zumutbar, das Bezirksamt hiervon zunächst selbst in Kenntnis zu setzen und so die behördliche Unkenntnis auszuräumen. Dazu habe es keiner Rechtskenntnisse bedurft.

Praxishinweis

Die Rechtsprechung ist in der Frage der Voraussetzungen für die Annahme der Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren unübersichtlich und keineswegs einheitlich (Kunze in BeckOK VwGO, VwGO § 162 Rn. 86). Nach einer in der Rechtsprechung verbreiteten - zutreffenden - Meinung ist es den Bürgern und Vertretern juristischer Personen des privaten Rechts im Normalfall nicht zuzumuten, ihre Rechte ohne rechtskundigen Rat materiell und verfahrensrechtlich gegenüber der Verwaltung ausreichend zu wahren, die Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren ist nach dieser Auffassung in der Regel zu bejahen (Kunze in BeckOK VwGO, § 162 VwGO Rn. 86; VG Freiburg, Beschluss vom 14.08.2019 - 3 K 6647/17, BeckRS 2019, 19183). Selbst wenn man dieser Auffassung nicht folgt, überzeugt die Entscheidung des VG Berlin nicht. Denn es ist für einen juristischen Laien nicht evident, welche Bedeutung die Aufhebung der Gewerbeuntersagung vom 11.02.2003 im Rahmen der Wiedergestattung durch die Gemeinde Berlin Blankenfelde-Mahlow vom 03.07.2014 für das in Rede stehende Verwaltungsverfahren hatte.

VG Berlin, Urteil vom 22.10.2021 - VG 4 K 331/21, BeckRS 2021, 33646