Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main
Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 20/2023 vom 13.10.2023
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Sachverhalt
Die 1962 geborene Klägerin leidet seit vielen Jahren unter einer Multiple Sklerose. Bereits 1997 hat das Versorgungsamt einen GdB von 90 mit den Merkzeichen G, aG und B festgestellt. Die Pflegekasse erbrachte seit Januar 2017 Leistungen nach dem Pflegegrad 3 und erbringt seit Dezember 2020 Leistungen nach dem Pflegegrad 4. Bis 2017 erfolgte die Pflege durch die Mutter. die Klägerin bezieht Rente wegen voller Erwerbsminderung i.H.v. ca. 870 bzw. 920 EUR monatlich.
Im Mai 2017 beantragt sie Hilfe zur Pflege gem. §§ 61 ff. SGB XII für die Aufnahme in einer stationären Pflegeeinrichtung. Im Antrag heißt es, dass der Abschluss des Heimvertrages abhängig von der Kostenübernahme durch den beklagten Sozialhilfeträger sei. Die Beklagte lehnt ab unter Hinweis auf vorhandenes Vermögen, welches die Freigrenze mit einem Betrag von 10.300 EUR überschreitet. Die Klägerin überwies 6.500 EUR auf das Girokonto ihrer Mutter mit dem Vermerk „Pflegegeld 8/2016 bis 7/2017“ und macht nun geltend, die Vermögensgrenze sei unterschritten. Die Beklagte bleibt bei der Ablehnung unter Hinweis auf vorhandenes Vermögen. Im August 2017 schloss die Klägerin mit dem Heimträger einen Heimvertrag und zog dort ein. Das Heim stellte der Klägerin Rechnungen zu unter Abzug der von der Pflegekasse erbrachten Vergütungsanteile gem. § 43 SGB XI. Die Beklagte lehnt die Übernahme weiterer Kosten ab unter Hinweis auf Vermögen, welches einzusetzen sei.
Im Klageverfahren macht die Klägerin geltend, sie finanziere ihren Lebensunterhalt aus der Erwerbsminderungsrente und aus Darlehen ihrer Mutter. Das an ihre Mutter gezahlte Pflegegeld sei für die nicht gedeckten Zuzahlungen für das Pflegeheim verwendet worden. Mit Bescheid vom Oktober 2020 hat die Beklagte Hilfe zur Pflege nach dem Pflegegrad 3 ab Mai 2020 bewilligt unter Berücksichtigung der vereinbarten Heimkosten einerseits und der Eigenleistungen der Klägerin aus ihrer Rente wegen Erwerbsminderung zuzüglich der Leistungen der Pflegeversicherung.
Das Sozialgericht hat mit angefochtenem Urteil vom März 2021 den Bescheid über die Ablehnung der Bewilligung von Hilfe zur Pflege aus dem Jahre 2017 abgeändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin die bereits beglichenen Kosten der Pflegeeinrichtung ab August 2017 zu erstatten, und zwar bis zum Mai 2020. Die Klägerin sei gem. § 61 SGB XII pflegebedürftig in diesem Zeitraum gewesen. Es sei ihr nicht zuzumuten, die für die Hilfe zur Pflege benötigten Mittel aus dem Einkommen und Vermögen aufzubringen. Das Einsetzen der Sozialhilfe ab August 2017 verschiebe sich auch nicht durch ein möglicherweise der Klägerin gegenüber ihrer Mutter zustehenden Schenkungsrückforderungsanspruch. Dieser Anspruch sei im vorliegenden Einzelfall nicht innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens verwertbar. Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Aus den Kontobewegungen sei nicht erkennbar, ob es sich bei den Überweisungen der Klägerin an ihre Mutter tatsächlich um Pflegegeld gehandelt habe und woraus die Mutter ihrerseits die Kosten des Pflegeheims beglichen habe.
Entscheidung
Das LSG hebt auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG auf und weist die Klage insgesamt ab. Streitgegenständlich sei gemäß den angefochtenen Bescheiden der Zeitraum von August 2017 bis Juni 2018. In dieser Zeit sind – unstreitig – die Heimkosten beglichen, und zwar durch Zahlungen der Mutter. Diese sind als Unterhalt zu werten. Zwar hätte ggfs. sozialhilferechtlich von der Mutter auch nach der bis zum 31.12.2019 geltenden Rechtslage die Zahlung von Unterhalt nicht im Sinne einer Überleitung von Ansprüchen gefordert werden können (vgl. BSG, BeckRS 2022, 47893). Tatsächlich ist die Klägerin jedoch im Umfang der Zahlungen ihrer Mutter an die Heimträgerin mit Erfüllungswirkung entlastet worden. Es fehlt also an dem durch die Sozialhilfe zu deckenden Bedarf.
Anhaltspunkte für rechtwirksame Darlehensvereinbarungen zwischen der Klägerin und ihrer Mutter sind nicht ersichtlich. Solche Darlehen hätten bei den Zahlungen der Mutter jeweils für eine Überweisung an den Heimträger neu abgeschlossen werden müssen.
Praxishinweis
1. Ein Fall aus der Praxis: Der Übergang von der häuslichen Pflege zur Pflege im Heim ist für alle Beteiligten außerordentlich schwierig und belastend. Die Einkommenssituation der Klägerin war eindeutig; ebenso der Pflegegrad und auch die im Heim entstehenden Kosten. Der Sozialhilfeträger hat hier nicht moniert, dass die Klägerin ein „zu teures“ Heim gewählt habe. Pflicht des Sozialhilfeträgers ist es, auch in Fällen der unstreitigen Pflegebedürftigkeit, die Vermögenssituation in den Blick zu nehmen. Wenn sich auf den Bankkonten lautend auf den Namen der behinderten Person entsprechende Geldbeträge befinden, ist dies, soweit die Grenzen des § 90 SGB XII überschritten werden, als Vermögen anzusetzen.
Man kann wohl unterstellen, dass hier die Familie die Angelegenheiten der Klägerin miterledigt hat und dass entweder die Angehörigen Bankvollmacht hatten. Die Pflegeversicherung hatte zuvor das dem Pflegegrad 3 entsprechende Pflegegeld korrekt auf das Konto der Klägerin überwiesen – auch wenn das Pflegegeld schlussendlich für Leistungen von Pflegepersonen (hier wohl überwiegend die Mutter) bestimmt war. Solange sich dieses Pflegegeld auf den Konten der Klägerin befindet, handelt es sich um Vermögen.
2. Nach dem außerordentlich komplizierten Sachverhalt hat die Klägerin wohl schon im Jahre 2017 wesentliche Teile des Vermögens an ihre Mutter überwiesen, die ihrerseits die Kosten für die Heimunterbringung ihrer Tochter beglich. Eine Aktion, die durchaus nachvollziehbar ist. Man sollte hier nicht böse Absicht unterstellen, z.B. schuldhaftes Verhalten i.S.d. § 103 SGB XII. Der Mutter ging es darum, ihrer schwerkranken Tochter den Aufenthalt im Heim nicht nur zu ermöglichen, sondern auch das Heim nicht zu provozieren. Das Heim seinerseits ist gezwungen, die angefallenen Kosten auch einzufordern. Das Heim konnte sich nicht mit dem Sozialhilfeträger in Verbindung setzen, da eine Sozialhilfebedürftigkeit nicht festgestellt war und das Heim auf dieses Verfahren auch keinerlei Einfluss hat. Die Mutter bezahlt nun die Rechnungen – offensichtlich in Sorge um das Wohl ihrer Tochter im Heim. Mutter und Tochter hatten bei diesen Überweisungen sicherlich nicht die Entlastung des Sozialhilfeträgers im Auge. Aus diesem „gemeinsamen Willen“ kann man aber nicht auf eine Darlehensgewährung schließen. Dies wäre auch allzu widersprüchlich, nachdem das von der Mutter viele Monate zuvor „erarbeitete“ Pflegegeld auf dem Konto der Tochter verblieben ist just bis zum Einzug in das Heim.
3. Man kann den Fall vergleichen mit dem vom LSG Nordrhein-Westfalen entschiedenen Fall. Das BSG hatte hier mit Beschluss vom 04.07.2023 (BeckRs 2023, 23510) den Antrag auf PKH für eine Nichtzulassungsbeschwerde abgewiesen. Im dortigen Fall hatte ein selbständig Tätiger von seiner Großmutter 2.000 EUR erhalten, die vom Grundsicherungsträger als Einkommen berücksichtigt wurde.
4. Ab dem 01.01.2020 gibt es unter Verwandten einen Anspruchsübergang nur dann und insoweit, als das Bruttojahreseinkommen des jeweiligen Elternteils 100.000 EUR übersteigt. Unterstellt man, dass die Mutter der Klägerin über solche Art Bruttoeinkommen nicht verfügt, käme ein Unterhaltsanspruch nicht in Betracht (Scholz/Kleffmann, FamR-Hdb. - Teil L, Sozialleistungen und Unterhalt, Rn. 155). Das LSG hat bei seiner Entscheidung – zutreffend – unterstellt, dass die Mutter in Höhe der gezahlten Rechnungsbeträge nicht unterhaltspflichtig war. Dennoch ändern diese Zahlungen nichts daran, dass der Bedarf gedeckt war. Dies dürfte auch für vergleichbare Fälle ab dem 01.01.2020 zutreffen.
LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 20.04.2023 – L 8 SO 27/21, BeckRS 2023, 21405