Urteilsanalyse
Herabsetzung des Pflegegrades
Urteilsanalyse
Lorem Ipsum
© Stefan Yang / stock.adobe.com

Für die Neufeststellung gem. § 48 SGB XI ist es - so das LSG Mecklenburg-Vorpommern - erforderlich, dass die Pflegekasse den „Besserungsnachweis“ führt, d.h. mit Hilfe von Gutachten die Reduzierung des Pflegebedarfs im konkreten Fall feststellt. Eine allgemeine Beweisvermutung des Inhaltes, dass die Verwaltung ihre ursprüngliche Entscheidung rechtmäßig getroffen hat und dass die dieser Entscheidung zugrundeliegende sachverständige Feststellung des Umfangs der Pflegebedürftigkeit zutreffend war, existiert danach nicht.

24. Mrz 2022

Anmerkung von

Rechtsanwältin Christel von der Decken, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 06/2022 vom 18.03.2022

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Sozialversicherungsrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Sozialversicherungsrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Sozialversicherungsrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de

Sachverhalt

Der Kläger, geboren 1951, beantragte im April 2020 Leistungen nach dem SGB XI bei der beklagten Pflegekasse. Diese beauftragte den MDK mit der Erstellung eines Gutachtens. Wegen der Corona-Pandemie erstellte er ein Gutachten nach Aktenlage aufgrund einer telefonischen Befragung und gab darin an, dass im Falle des Klägers 37,5 Gesamtpunkte i.S.v. § 15 Abs. 3 SGB XI festzustellen seien. Der Kläger beantragte ein ¾ Jahr später den Zuschuss für Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes (Beseitigung von Türschwellen, barrierefreier Umbau der Dusche). Die Pflegekasse – Antragsgegnerin – sicherte einen Zuschuss von 4.000 EUR für Umbaumaßnahmen zu und lehnte durch angefochtenen Bescheid Zuschüsse für weitere Leistungen ab. Dagegen richtet sich der Widerspruch des Klägers. Im Rahmen einer Wiederholungsbegutachtung gelangte der medizinische Dienst nach einer persönlichen Begutachtung am Wohnort des Klägers zu dem Ergebnis, dass lediglich die Voraussetzungen von Pflegegrad I erfüllt seien. Ohne vorherige Anhörung des Antragsstellers hob die Antragsgegnerin die Genehmigung über den Pflegegrad II mit angefochtenem Bescheid vom 28.07.2021 auf; ab dem 01.09.2021 seien Leistungen nur noch nach Pflegegrad I zu gewähren. Der Antragsteller habe seine Selbständigkeit zum Teil zurückerlangt.

Dagegen erhob der Antragsteller Widerspruch, der durch angefochtenen Widerspruchsbescheid zurückgewiesen wurde. Im Widerspruchsbescheid heißt es, dass der jetzt festgestellte niedrigere Pflegegrad darauf zurückzuführen sei, dass sich die Pflegesituation bei der Begutachtung in der Häuslichkeit abweichend von der anlässlich der Vorbegutachtung in einem Telefoninterview ermittelten Situation darstelle. Parallel zur Klage wandte sich der Antragsteller in einem Eilantrag an das Sozialgericht gegen die Aberkennung des Pflegegrades II und begehrte die Gewährung weiterer Umbauten. Das SG lehnt den Eilantrag ab, da der Widerspruch aufschiebende Wirkung habe. Zum Zeitpunkt des Beschlusses lag der Widerspruchsbescheid dem SG noch nicht vor. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers.

Entscheidung

Das LSG ordnet auf die Beschwerde des Antragstellers hin die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Widerspruchsbescheid an, soweit der Pflegegrad herabgesetzt wurde.

Der „Herabstufungsbescheid“ der Antragsgegnerin ist offensichtlich rechtswidrig. Nach dem zweiten Gutachten des medizinischen Dienstes vom Juli 2021 ist es mehr als nur wahrscheinlich, dass keine Zustandsverbesserung vorliegt, sondern dass die vorangegangene, unter Corona-Bedingungen telefonisch erfolgte Begutachtung auf objektiv unzutreffenden Angaben des Antragstellers beruhte, welche ohne nähere kritische Prüfung der Feststellung der Pflegebedürftigkeit zugrunde gelegt worden ist. Es kann dahinstehen, ob die im Gutachten im Mai 2020 angenommenen Befunde und Feststellungen zur Selbständigkeit auf bewussten oder zumindest grob fahrlässig wahrheitswidrigen Angaben des Antragstellers beruhten. Die Antragstellerin hat die Aufhebung der Leistungsbewilligung nicht wegen anfänglicher Rechtswidrigkeit auf § 45 SGB X gestützt. Eine nachträgliche Auswechslung der Rechtsgrundlage kommt schon wegen der unterbliebenen nach § 45 SGB X aber erforderlichen Ermessensausübung nicht in Betracht.

Praxishinweis

1. Während der Corona-Pandemie waren Begutachtungen auf Grundlage eines Telefon-Interviews zulässig und zielführend. Dies wird bisweilen von den Betroffenen beanstandet, weil die Pflegesituation telefonisch nur unzureichend beschrieben werden könne. Die Pflegekasse kann im vorliegenden Fall den ursprünglichen Leistungsbescheid gem. § 45 SGB X aufheben, muss dann allerdings prüfen, ob dies auch rückwirkend geschehen kann. Hier könne der Nachweis vorsätzlicher falscher Angaben wohl kaum geführt werden. Dann käme eine Aufhebung des Leistungsbescheides nach § 45 SGB X für die Zukunft in Betracht, da nun – spätestens ab Mitteilung der neuen Begutachtung – der Betroffene auf den Bestand des ursprünglichen fehlerhaften Bescheides nicht vertrauen kann. Der ursprüngliche Bescheid datiert vom 03.06.2020, so dass die Zwei-Jahres-Frist gem. § 45 Abs. 3 SGB X noch nicht abgelaufen ist. Allerdings bedarf es gem. § 24 SGB X einer vorherigen Anhörung.

2. Beim SG liegt nun die Klage des Klägers gegen den Widerspruchsbescheid. Das SG wird kein neues Gutachten einholen, sondern unter Bezug auf den Beschluss des LSG den angefochtenen Bescheid aufheben, da er nicht in einen Bescheid nach § 45 SGB X umgedeutet werden kann. Etwas Anderes gilt nur dann, wenn das SG meint, dass das zweite Gutachten des MDK vielleicht doch Grundlage für einen Besserungsnachweis sein kann, so dass mit Hilfe eines neuen Gutachtens der Behauptung des Klägers, der Pflegegrad sei ursprünglich zutreffend festgesetzt worden und eine Besserung sei nicht eingetreten, nachgegangen wird.

3. Im Falles des LSG Hamburg vom 18.01.2022 (BeckRS 2022, 2513) hatte der Kläger moniert, dass die Entscheidung der Pflegekasse über den beantragten Pflegegrad erst später als 25 Arbeitstage nach Antragseingang ergangen sei. Das LSG betont, dass auf diese Verletzung des § 18 Abs. 3 Satz 2 SGB X ein Anspruch auf Feststellung des Pflegegrades nicht gestützt werden kann. Auch könne der Versicherte den Anspruch auf höheren Pflegegrad nicht damit begründen, dass die Pflegekasse ihm nicht mehrere Gutachter zur Auswahl vorgeschlagen hatte.

LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 19.01.2022 - L 6 P 9/21 BER, BeckRS 2022, 1464