Anmerkung von
Senator E. h. Ottheinz Kääb, LL.M., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht und Versicherungsrecht, München
Aus beck-fachdienst Straßenverkehrsrecht 16/2021 vom 19.08.2021
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StVG §§ 7, 17 I, II, 18 III; StVO§§ 1 II, 8
Sachverhalt
Der Kläger befuhr eine Vorfahrtsstraße, in die von rechts eine untergeordnete Straße einmündete, kenntlich gemacht durch das Verkehrszeichen 205. Aus dieser kam der Beklagten-Fahrer, der nach links in die Vorfahrtsstraße abbiegen wollte. Auf der Vorfahrtsstraße staute sich der Verkehr. Der Kläger überholte, weil kein Gegenverkehr herrschte, auf der Gegenfahrbahn die Kolonne und kollidierte mit dem durch eine Kolonnenlücke abbiegenden Beklagten-Fahrzeug.
Der Kläger begehrt 100% Schadenersatz. Der Beklagten-Versicherer leistete keine Zahlungen. Er argumentiert, der Kläger habe die Kolonne «mit weit überhöhter Geschwindigkeit» und trotz unklarer Verkehrslage überholt.
Rechtliche Wertung
Das Gericht hörte die beiden Fahrer gemäß § 141 ZPO an und entschied mit dem hier vorgestellten Urteil auf eine Quote 70:30 zugunsten des Klägers.
Dass der Kläger mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei, bestreite er und Beweis sei vom Beklagten nicht angeboten worden. Gegenverkehr habe nicht geherrscht. Der Kläger habe daher überholen dürfen, allerdings hätte er nach Meinung der Richter auf die in der Kolonne gebildete Lücke achten müssen. Auch dürfe nur überholen, wer die gesamte zum Überholen genutzte Strecke überblicken könne. Dazu gehöre auch der Blick durch die Lücke bei einer Möglichkeit des Einscherens von dort.
Der Beklagte sei nicht «Stück für Stück zur Sichtgewinnung» vorgefahren. Ein solches sorgsames, langsames Hineintasten in und durch die Lücke habe selbst der Beklagte nicht behauptet. Damit sei ihm ein unfallursächlicher Vorfahrtsverstoß vorzuwerfen und dem Kläger ein Verstoß gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot. Der Verstoß gegen die Vorfahrtsregeln überwiege jedoch, wodurch die Richter zur genannten Quotelung kamen.
Praxishinweis
Die Entscheidung wird hier vorgestellt, weil solche Unfallkonstellationen im sich stauenden Großstadtverkehr nicht selten sind. Die Abwägung der Verursachensanteile ist von sehr vielen einzelnen Umständen abhängig, die hier gut dargestellt werden. Auch wird es vielfach auf die örtlichen Verhältnisse ankommen. Für den Praktiker ist die Entscheidung eine gute Einordnungshilfe.
LG Hamburg, Urteil vom 16.07.2021 - 306 O 56/21, BeckRS 2021, 20552