Kernaufgabe des Anwalts ist es, den Sachverhalt im Hinblick auf das vom Mandanten erstrebte Ziel in jede Richtung umfassend rechtlich zu prüfen, ihn entsprechend zu belehren und Nachteile für ihn zu vermeiden (BGH NJW 1993, 1779 (1780)). Seine Empfehlungen hat er an der zum Zeitpunkt der Beratung veröffentlichten höchstrichterlichen Rechtsprechung auszurichten (BGH NJW 2001, 146 (148)). Entgegenstehende Judikatur von Instanzgerichten und vereinzelte Stimmen im Schrifttum sind in der Regel nicht zu berücksichtigen, es sei denn, eine Änderung erscheint wegen neuer Entwicklungen in Judikatur und Rechtswissenschaft möglich (BGH NJW 2009, 1593 (1594)). Ist eine streitentscheidende Rechtsfrage bislang höchstrichterlich aber noch nicht geklärt, stellen sich haftungsrechtlich zwei Fragen, nämlich diejenige nach dem Pflichtenkreis des Rechtsanwalts und – im Bereich der Kausalität – diejenige des beratungsrechten Verhaltens des Mandanten. Ein pflichtgemäßes anwaltliches Handeln erfordert in einer solchen Situation zunächst einmal die Sichtung von Kommentaren und der Rechtsprechung der Obergerichte (OLG Zweibrücken NJW-RR 2023, 1033). Zu prüfen ist, ob und welche Tendenz in der Entwicklung der Judikatur festzustellen ist (Henssler ua/Weinland Hdb d. Beraterhaftung, 2. Aufl. 2023, Kap. 3 Rn. 186). Nicht nur eine Recherche über juristische Datenbanken und die Lektüre von Spezialzeitschriften (BGH NJW 2001, 675 (678); OLG Frankfurt a. M. BeckRS 2021, 22617), sondern auch die Sichtung der Online-Entscheidungsdatenbanken der Gerichte sind erforderlich (OLG Jena NJOZ 2024, 400). Ganz aktuell hat sich der BGH mit dieser Thematik befasst (NJW 2024, 3290 [in diesem Heft]). Dabei liegt der Schwerpunkt der Entscheidung aber nicht bei der Pflichtverletzung, sondern beim Beweis des ersten Anscheins und der Vermutung des beratungsgerechten Verhaltens: Aus übergegangenem Recht hatte ein Rechtsschutzversicherer auf Ersatz des Kostenschadens geklagt, weil der Anwalt angeblich einen aussichtslosen Rechtsstreit geführt hatte: Der rechtsschutzversicherte Mandant hatte sich an einer in Form einer KG organisierten Kapitalanlage über die dort als Treuhand-/Gründungskommanditistin tätige Steuerberatungsgesellschaft beteiligt. Dieser warf der Mandant einen Verstoß gegen ihre Aufklärungspflicht vor. Nach Freigabe des Deckungsanspruchs gegen den Vermögensschadenhaftpflichtversicherer durch den Insolvenzverwalter der zwischenzeitlich insolventen Steuerberatungsgesellschaft erhob der Anwalt Klage gegen den Versicherer. Diese blieb erfolglos, weil die Aufklärungspflichtverletzung der Steuerberatungsgesellschaft als „normale“ Gesellschafterin aus einer unternehmerischen Tätigkeit folgte, die nicht unter den Versicherungsschutz der Vermögensschadenhaftpflichtversicherung fiel. Zum Zeitpunkt der Klageerhebung war diese Frage aber höchstrichterlich nicht geklärt. Allein der Umstand, dass der BGH eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung in einem ähnlich gelagerten Fall für unzulässig erachtet hatte, führt nicht dazu, dass die Rechtslage als geklärt angesehen werden konnte. Aus ex-ante-Sicht sah der BGH die vom klagendenden Anwalt vorgenommene Auslegung der Versicherungsbedingungen nicht als unvertretbar an. Fehle es – so der IX.?Zivilsenat – an einer höchstrichterlichen Klärung, müsse sich der Sachverhalt derart unter Rechtsvorschriften subsumieren lassen, dass das Ergebnis einer Auslegung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zweifelhaft sein kann. Nur dann greife kein Anscheinsbeweis zugunsten des Mandanten. Denn dieser setzt bei einer pflichtwidrigen Beratung über die Erfolgsaussichten einer Klage voraus, dass die Rechtsverfolgung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen objektiv aussichtslos war (BGH NJW 2021, 3324). An dieses Merkmal werden jedoch hohe Anforderungen gestellt. Haftungsrechtlich ist die Ausgangslage bei höchstrichterlich ungeklärter Rechtsfrage für den Anwalt also durchaus positiv. Es wird von ihm nicht erwartet, die künftige Rechtsprechung zutreffend zu prognostizieren. Und die Kausalität einer Pflichtverletzung stellt – anders als sonst häufig zu sehen – ebenso eine Hürde für einen erfolgreichen Anwaltsregress dar. Hierdurch sollte sich Anwälte aber nicht verleitet sehen, bei Fehlen höchstrichterlicher Rechtsprechung auf eine intensive Recherche zu verzichten. Dieser Inhalt ist zuerst in der NJW erschienen. Sie möchten die NJW kostenlos testen? Jetzt vier Wochen gratis testen inkl. Online-Modul NJWDirekt.Fazit und Empfehlung für die Praxis