Urteilsanalyse
Haftung des Betreuers für an den Betreuten überzahlte Leistungen
Urteilsanalyse
Lorem Ipsum
© Stefan Yang / stock.adobe.com

Nach § 34a SGB II haftet der Betreuer für rechtswidrig erbrachte Leistungen an den Betreuten, wenn er die rechtswidrige Leistungserbringung herbeigeführt hat. Das Verhalten der in Anspruch genommenen Person muss nach Ansicht des BSG objektiv im Sinne eines zurechenbaren Grundes ursächlich für die rechtswidrige Leistungserbringung gewesen sein und zudem vorsätzlich oder grob fahrlässig gerade auf diese rechtswidrige Leistung gerichtet sein.


26. Okt 2021

Anmerkung von

Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 21/2021 vom 21.10.2021

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Sozialversicherungsrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Sozialversicherungsrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Sozialversicherungsrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de


Sachverhalt

Der beklagte Landkreis (Träger der Grundsicherung gem. SGB II) verlangt von dem Kläger als gesetzlichem Betreuer eines Leistungsempfängers Ersatz für rechtswidrig erbrachte Leistungen i.H.v. 3.824 EUR. Der Kläger wurde im August 2012 zum ehrenamtlichen Betreuer des späteren Leistungsbeziehers S bestellt. Sein Aufgabenkreis umfasste die Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten, Geltendmachung von Ansprüchen auf Hilfe zum Lebensunterhalt sowie die Entgegennahme und das Öffnen der Post. S beantragte im September 2012 bei dem Beklagten Alg II und überreichte während einer Vorsprache im Jobcenter zusammen mit dem Kläger die von ihm und dem Kläger unterschriebenen Antragsformulare. Einkommen oder Vermögen wurde darin verneint. Dies, obwohl S vor der Antragstellung von September 2010 bis August 2012 als Auszubildender sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen war. In der Einkommenserklärung wird die Frage nach Bezug von Alg I verneint. Der Beklagte bewilligt Leistungen und stellt später fest, dass S bis Juli 2013 Anspruch auf Alg I hatte. Der Beklagte hob gegenüber S die Bewilligungsbescheide auf und forderte 3.824 EUR von S zurück, der nichts zahlte. Daraufhin erließ der Beklagte gegen den Kläger einen Bescheid, wonach er gem. § 34a SGB II zur Zahlung von 3.824 EUR verpflichtet sei. Der von ihm betreute S habe Leistungen zu Unrecht bezogen. Die Bewilligung von Alg I sei dem Kläger bekannt gewesen.

Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Auf die Berufung des Klägers hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben. Es kann dem Kläger nicht widerlegt werden, dass er erst durch das Schreiben der BA vom 17.06.2013, also lange nach der hier streitgegenständlichen Bewilligung von Alg II-Kenntnis von dem Alg I-Bezug erhalten habe. Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten. Das Verhalten des Klägers sei kausal für die Leistungserbringung gewesen. Der Kläger habe seine Pflicht, Kontoauszüge des S früher anzufordern und zu sichten, verletzt.

Entscheidung

Das BSG weist die Revision des Beklagten zurück. Der angefochtene Bescheid ist formell rechtmäßig, materiell aber rechtswidrig, da die Voraussetzungen des § 34a SGB II nicht erfüllt sind. Danach setzt der Ersatzanspruch gegen Dritte voraus, dass ein Verhalten der in Anspruch genommenen Person erstens objektiv im Sinne eines zurechenbaren Grundes ursächlich für eine rechtswidrige Leistungserbringung gewesen ist und zweitens – im Sinne eines subjektiven Elements – vorsätzlich oder grob fahrlässig gerade auf diese rechtswidrige Leistungserbringung – den „Handlungserfolg“ - gerichtet war. Der Ersatzanspruch ist damit einem deliktischen Anspruch ähnlich. Auf eine eventuelle „Sozialwidrigkeit“ des Verhaltens im Sinne des § 34 SGB II kommt es nicht an.

Durch den Ersatzanspruch nach § 34a Abs. 1 SGB II wird weder der Grundsatz einer verschuldensunabhängigen Deckung des Existenzminimums berührt noch geht es um die Verwirklichung des Nachranggrundsatzes. Dieser wird bereits durch die objektive Rechtslage (hier: Berücksichtigung von Einkommen) gewährleistet. Vielmehr sollen Personen als Verursacher eines Schadens in Fällen der Erbringung nicht rechtkonformer Leistungen zusätzlich zum Leistungserbringer in Anspruch genommen werden können.

Die Voraussetzungen für den Ersatzanspruch nach § 34a SGB II sind hier nicht erfüllt. Zwar hat der Beklagte Geldleistungen bewilligt und ausgezahlt, die objektiv rechtswidrig waren. Erstattungspflichtig kann der Kläger aber nur dann sein, wenn sein Verhalten im Sinne von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit gerade auf die Erbringung einer rechtswidrigen Geldleistung gerichtet und ursächlich für diesen Erfolg war. Liegt das Verhalten nicht in einem aktiven Tun, sondern in einem Unterlassen, ist zudem zu prüfen, ob eine Pflicht zum Handeln bestanden hat. Als Betreuer war der Kläger zwar verpflichtet, sich zeitnah Kenntnis von den Kontoauszügen des Betreuten und damit von Zahlungen der BA zu verschaffen. Umfang und Bedeutung der Betreuerpflichten lässt der Senat offen. Weder das aktive Tun noch ein Unterlassen des Klägers sind als rechtserhebliche Ursachen für die rechtswidrige Leistungserbringung anzusehen, weil ursächlich für die rechtswidrige Leistungserbringung (auch) eine unzureichende Sachbearbeitung durch den Beklagten war. Der Beklagte hätte bei ordnungsgemäßer Bearbeitung des Leistungsantrags den Hinweis auf eine zweijährige beitragspflichtige Beschäftigung als Auszubildender zum Anlass nehmen müssen, S auf seine Verpflichtung nach § 12a SGB II zur Inanspruchnahme von Alg I hinzuweisen. Ggf. hätte der Beklagte selbst gem. § 5 Abs. 3 SGB II den erforderlichen Antrag stellen müssen. In diesem Fall hätte der Beklagte frühzeitig vom Bezug von Alg I erfahren.

Praxishinweis

1. Die Entscheidung ist kein Freibrief für Leistungsempfänger oder deren Betreuer: Der Betreuer war kurz nach Beauftragung mit dem Antrag an das Jobcenter befasst. Dass er sich innerhalb dieser kurzen Frist einen vollständigen Überblick noch nicht verschafft hat, erscheint dem Gericht glaubhaft und ist auch nicht praxisfern (vgl. dazu auch den Hinweis von Zieglmeier NZS 2020, 955 zur Entscheidung der Vorinstanz).

2. Die Leistungsempfänger machen immer wieder geltend, bei der Prüfung des Vertrauensschutzes nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X müsse zu ihren Gunsten berücksichtigt werden, dass die Behörde ihrerseits fehlerhaft gehandelt hat bzw. „nicht aufgepasst“ hat. Dieser Einwand wird allenfalls ausnahmsweise akzeptiert (vgl. BSG BeckRS 2021, 25311).

3. Kommt es zu einer Rentenzahlung nach dem Tod des Berechtigten, kommt nach § 118 SGB VI auch eine Haftung Dritter auf die nach dem Tode überzahlte Rente in Betracht (dazu BSG BeckRS 2020, 21086). Das BSG hat in diesem Beschluss ausführlich dargelegt, dass diese Art der Haftung nicht gegen Grundrechte desjenigen verstößt, der als Verfügender in Anspruch genommen wird.

BSG, Urteil vom 12.05.2021 - B 4 AS 66/20 R, BeckRS 2021, 27227