Urteilsanalyse

Haf­tung des Be­treu­ers für an den Be­treu­ten über­zahl­te Leis­tun­gen
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Nach § 34a SGB II haf­tet der Be­treu­er für rechts­wid­rig er­brach­te Leis­tun­gen an den Be­treu­ten, wenn er die rechts­wid­ri­ge Leis­tungs­er­brin­gung her­bei­ge­führt hat. Das Ver­hal­ten der in An­spruch ge­nom­me­nen Per­son muss nach An­sicht des BSG ob­jek­tiv im Sinne eines zu­re­chen­ba­ren Grun­des ur­säch­lich für die rechts­wid­ri­ge Leis­tungs­er­brin­gung ge­we­sen sein und zudem vor­sätz­lich oder grob fahr­läs­sig ge­ra­de auf diese rechts­wid­ri­ge Leis­tung ge­rich­tet sein.


26. Okt 2021

An­mer­kung von

Rechts­an­walt Prof. Dr. Her­mann Pla­ge­mann, Pla­ge­mann Rechts­an­wäl­te Part­ner­schaft mbB, Frank­furt am Main

Aus beck-fach­dienst So­zi­al­ver­si­che­rungs­recht 21/2021 vom 21.10.2021

Diese Ur­teils­be­spre­chung ist Teil des zwei­wö­chent­lich er­schei­nen­den Fach­diens­tes So­zi­al­ver­si­che­rungs­recht. Neben wei­te­ren aus­führ­li­chen Be­spre­chun­gen der ent­schei­den­den ak­tu­el­len Ur­tei­le im So­zi­al­ver­si­che­rungs­recht be­inhal­tet er er­gän­zen­de Leit­satz­über­sich­ten und einen Über­blick über die re­le­van­ten neu er­schie­ne­nen Auf­sät­ze. Zudem in­for­miert er Sie in einem Nach­rich­ten­block über die wich­ti­gen Ent­wick­lun­gen in Ge­setz­ge­bung und Pra­xis des So­zi­al­ver­si­che­rungs­rechts. Wei­te­re In­for­ma­tio­nen und eine Schnell­be­stell­mög­lich­keit fin­den Sie unter www.​beck-​online.​de


Sach­ver­halt

Der be­klag­te Land­kreis (Trä­ger der Grund­si­che­rung gem. SGB II) ver­langt von dem Klä­ger als ge­setz­li­chem Be­treu­er eines Leis­tungs­emp­fän­gers Er­satz für rechts­wid­rig er­brach­te Leis­tun­gen i.H.v. 3.824 EUR. Der Klä­ger wurde im Au­gust 2012 zum eh­ren­amt­li­chen Be­treu­er des spä­te­ren Leis­tungs­be­zie­hers S be­stellt. Sein Auf­ga­ben­kreis um­fass­te die Ver­mö­gens­sor­ge, Woh­nungs­an­ge­le­gen­hei­ten, Gel­tend­ma­chung von An­sprü­chen auf Hilfe zum Le­bens­un­ter­halt sowie die Ent­ge­gen­nah­me und das Öff­nen der Post. S be­an­trag­te im Sep­tem­ber 2012 bei dem Be­klag­ten Alg II und über­reich­te wäh­rend einer Vor­spra­che im Job­cen­ter zu­sam­men mit dem Klä­ger die von ihm und dem Klä­ger un­ter­schrie­be­nen An­trags­for­mu­la­re. Ein­kom­men oder Ver­mö­gen wurde darin ver­neint. Dies, ob­wohl S vor der An­trag­stel­lung von Sep­tem­ber 2010 bis Au­gust 2012 als Aus­zu­bil­den­der so­zi­al­ver­si­che­rungs­pflich­tig be­schäf­tigt ge­we­sen war. In der Ein­kom­mens­er­klä­rung wird die Frage nach Bezug von Alg I ver­neint. Der Be­klag­te be­wil­ligt Leis­tun­gen und stellt spä­ter fest, dass S bis Juli 2013 An­spruch auf Alg I hatte. Der Be­klag­te hob ge­gen­über S die Be­wil­li­gungs­be­schei­de auf und for­der­te 3.824 EUR von S zu­rück, der nichts zahl­te. Dar­auf­hin er­ließ der Be­klag­te gegen den Klä­ger einen Be­scheid, wo­nach er gem. § 34a SGB II zur Zah­lung von 3.824 EUR ver­pflich­tet sei. Der von ihm be­treu­te S habe Leis­tun­gen zu Un­recht be­zo­gen. Die Be­wil­li­gung von Alg I sei dem Klä­ger be­kannt ge­we­sen.

Wi­der­spruch und Klage blie­ben er­folg­los. Auf die Be­ru­fung des Klä­gers hat das LSG das Ur­teil des SG auf­ge­ho­ben. Es kann dem Klä­ger nicht wi­der­legt wer­den, dass er erst durch das Schrei­ben der BA vom 17.06.2013, also lange nach der hier streit­ge­gen­ständ­li­chen Be­wil­li­gung von Alg II-Kennt­nis von dem Alg I-Bezug er­hal­ten habe. Da­ge­gen rich­tet sich die Re­vi­si­on der Be­klag­ten. Das Ver­hal­ten des Klä­gers sei kau­sal für die Leis­tungs­er­brin­gung ge­we­sen. Der Klä­ger habe seine Pflicht, Kon­to­aus­zü­ge des S frü­her an­zu­for­dern und zu sich­ten, ver­letzt.

Ent­schei­dung

Das BSG weist die Re­vi­si­on des Be­klag­ten zu­rück. Der an­ge­foch­te­ne Be­scheid ist for­mell recht­mä­ßig, ma­te­ri­ell aber rechts­wid­rig, da die Vor­aus­set­zun­gen des § 34a SGB II nicht er­füllt sind. Da­nach setzt der Er­satz­an­spruch gegen Drit­te vor­aus, dass ein Ver­hal­ten der in An­spruch ge­nom­me­nen Per­son ers­tens ob­jek­tiv im Sinne eines zu­re­chen­ba­ren Grun­des ur­säch­lich für eine rechts­wid­ri­ge Leis­tungs­er­brin­gung ge­we­sen ist und zwei­tens – im Sinne eines sub­jek­ti­ven Ele­ments – vor­sätz­lich oder grob fahr­läs­sig ge­ra­de auf diese rechts­wid­ri­ge Leis­tungs­er­brin­gung – den „Hand­lungs­er­folg“ - ge­rich­tet war. Der Er­satz­an­spruch ist damit einem de­lik­ti­schen An­spruch ähn­lich. Auf eine even­tu­el­le „So­zi­al­wid­rig­keit“ des Ver­hal­tens im Sinne des § 34 SGB II kommt es nicht an.

Durch den Er­satz­an­spruch nach § 34a Abs. 1 SGB II wird weder der Grund­satz einer ver­schul­dens­un­ab­hän­gi­gen De­ckung des Exis­tenz­mi­ni­mums be­rührt noch geht es um die Ver­wirk­li­chung des Nach­rang­grund­sat­zes. Die­ser wird be­reits durch die ob­jek­ti­ve Rechts­la­ge (hier: Be­rück­sich­ti­gung von Ein­kom­men) ge­währ­leis­tet. Viel­mehr sol­len Per­so­nen als Ver­ur­sa­cher eines Scha­dens in Fäl­len der Er­brin­gung nicht recht­kon­for­mer Leis­tun­gen zu­sätz­lich zum Leis­tungs­er­brin­ger in An­spruch ge­nom­men wer­den kön­nen.

Die Vor­aus­set­zun­gen für den Er­satz­an­spruch nach § 34a SGB II sind hier nicht er­füllt. Zwar hat der Be­klag­te Geld­leis­tun­gen be­wil­ligt und aus­ge­zahlt, die ob­jek­tiv rechts­wid­rig waren. Er­stat­tungs­pflich­tig kann der Klä­ger aber nur dann sein, wenn sein Ver­hal­ten im Sinne von Vor­satz oder gro­ber Fahr­läs­sig­keit ge­ra­de auf die Er­brin­gung einer rechts­wid­ri­gen Geld­leis­tung ge­rich­tet und ur­säch­lich für die­sen Er­folg war. Liegt das Ver­hal­ten nicht in einem ak­ti­ven Tun, son­dern in einem Un­ter­las­sen, ist zudem zu prü­fen, ob eine Pflicht zum Han­deln be­stan­den hat. Als Be­treu­er war der Klä­ger zwar ver­pflich­tet, sich zeit­nah Kennt­nis von den Kon­to­aus­zü­gen des Be­treu­ten und damit von Zah­lun­gen der BA zu ver­schaf­fen. Um­fang und Be­deu­tung der Be­treu­er­pflich­ten lässt der Senat offen. Weder das ak­ti­ve Tun noch ein Un­ter­las­sen des Klä­gers sind als rechts­er­heb­li­che Ur­sa­chen für die rechts­wid­ri­ge Leis­tungs­er­brin­gung an­zu­se­hen, weil ur­säch­lich für die rechts­wid­ri­ge Leis­tungs­er­brin­gung (auch) eine un­zu­rei­chen­de Sach­be­ar­bei­tung durch den Be­klag­ten war. Der Be­klag­te hätte bei ord­nungs­ge­mä­ßer Be­ar­bei­tung des Leis­tungs­an­trags den Hin­weis auf eine zwei­jäh­ri­ge bei­trags­pflich­ti­ge Be­schäf­ti­gung als Aus­zu­bil­den­der zum An­lass neh­men müs­sen, S auf seine Ver­pflich­tung nach § 12a SGB II zur In­an­spruch­nah­me von Alg I hin­zu­wei­sen. Ggf. hätte der Be­klag­te selbst gem. § 5 Abs. 3 SGB II den er­for­der­li­chen An­trag stel­len müs­sen. In die­sem Fall hätte der Be­klag­te früh­zei­tig vom Bezug von Alg I er­fah­ren.

Pra­xis­hin­weis

1. Die Ent­schei­dung ist kein Frei­brief für Leis­tungs­emp­fän­ger oder deren Be­treu­er: Der Be­treu­er war kurz nach Be­auf­tra­gung mit dem An­trag an das Job­cen­ter be­fasst. Dass er sich in­ner­halb die­ser kur­zen Frist einen voll­stän­di­gen Über­blick noch nicht ver­schafft hat, er­scheint dem Ge­richt glaub­haft und ist auch nicht pra­xis­fern (vgl. dazu auch den Hin­weis von Ziegl­mei­er NZS 2020, 955 zur Ent­schei­dung der Vor­in­stanz).

2. Die Leis­tungs­emp­fän­ger ma­chen immer wie­der gel­tend, bei der Prü­fung des Ver­trau­ens­schut­zes nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X müsse zu ihren Guns­ten be­rück­sich­tigt wer­den, dass die Be­hör­de ih­rer­seits feh­ler­haft ge­han­delt hat bzw. „nicht auf­ge­passt“ hat. Die­ser Ein­wand wird al­len­falls aus­nahms­wei­se ak­zep­tiert (vgl. BSG BeckRS 2021, 25311).

3. Kommt es zu einer Ren­ten­zah­lung nach dem Tod des Be­rech­tig­ten, kommt nach § 118 SGB VI auch eine Haf­tung Drit­ter auf die nach dem Tode über­zahl­te Rente in Be­tracht (dazu BSG BeckRS 2020, 21086). Das BSG hat in die­sem Be­schluss aus­führ­lich dar­ge­legt, dass diese Art der Haf­tung nicht gegen Grund­rech­te des­je­ni­gen ver­stö­ßt, der als Ver­fü­gen­der in An­spruch ge­nom­men wird.

BSG, Ur­teil vom 12.05.2021 - B 4 AS 66/20 R, BeckRS 2021, 27227