Urteilsanalyse
Gutachten – von Amts wegen einholen?
Urteilsanalyse
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Ein Gericht muss - so der BGH - den Sachverständigenbeweis nach pflichtgemäßem Ermessen von Amts wegen erheben, wenn seine eigene Sachkunde nicht ausreicht, um schlüssig vorgetragene und wirksam bestrittene Tatsachen festzustellen.

21. Jan 2022

Anmerkung von
Richter am Kammergericht Dr. Oliver Elzer, Berlin

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 01/2022 vom 14.12.2022

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Sachverhalt

In einem Mietrechtsstreit fragt sich, ob das Berufungsgericht von Amts wegen das Gutachten eines Sachverständigen einholen muss (hier: Vergleichbarkeit von Wohnungen in einer Wohnungseigentumsanlage).

Entscheidung: Ein Gericht muss ggf. von Amts wegen ein Gutachten einholen!

Der Antritt eines Beweises durch Sachverständigengutachten sei nur als eine Anregung an das Gericht zu verstehen. Denn dieses müsse den Sachverständigenbeweis nach pflichtgemäßem Ermessen von Amts wegen erheben, wenn seine eigene Sachkunde nicht ausreiche, um schlüssig vorgetragene und wirksam bestrittene Tatsachen festzustellen. Im Fall sei ein Sachverständigengutachten zur Vergleichbarkeit der Wohnungen nicht bereits deshalb als ungeeignet anzusehen, weil dem Sachverständigen möglicherweise kein Zutritt zu diesen Wohnungen verschafft werden könne bzw. die Wohnungseigentümer nicht verpflichtet seien, eine Bauteilöffnung zu gestatten. Die Beantwortung der Frage, ob eine Begutachtung geeignet sei, zur Aufklärung des Sachverhalts beizutragen, setze im Allgemeinen eine fachspezifische Sachkunde voraus (Hinweis auf BGH NJW-RR 2008, 696 Rn. 3). Selbst wenn ein Betreten der Wohnungen und/oder eine Bauteilöffnung nicht möglich sein sollten, sei im Übrigen nicht auszuschließen, dass ein Sachverständiger – zB aufgrund von Bauunterlagen und der Inaugenscheinnahme der Gebäude von außen – Feststellungen zur Vergleichbarkeit treffen könne.

Praxishinweis

Der Beweis durch Sachverständige wird gem. § 403 ZPO durch die Bezeichnung der zu begutachtenden Punkte angetreten. Der Antritt eines Beweises durch Sachverständigengutachten ist, wie vom VIII. Zivilsenat ausgeführt, folglich eine Anregung an das Gericht. Dieses muss den Sachverständigenbeweis nach pflichtgemäßem Ermessen von Amts wegen erheben, wenn seine eigene Sachkunde nicht ausreicht, um schlüssig vorgetragene und wirksam bestrittene Tatsachen festzustellen (BGH NJW 2019, 3147 Rn. 18). Dies folgt auch aus § 144 I 1 ZPO, Danach steht es im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, ob es ein Sachverständigengutachten ohne Antrag des Beweispflichtigen und also von Amts wegen einholt (BGH NZM 2019, 334 Rn. 18 = FD-ZVR 2019, 415465 mAnm. Toussaint).

Durch diese Möglichkeit sind die Parteien aber nicht von ihrer Darlegungs- und Beweislast befreit (BGH NZM 2019, 334 Rn. 18 = FD-ZVR 2019, 415465 mAnm. Toussaint), was der VIII. Zivilsenat erneut leider nicht erwähnt (zuvor BGH NJW 2019, 2765 Rn. 44 = FD-ZVR 2019, 418508 mAnm Elzer; BGH NJW 2019, 3147 Rn. 18). Dementsprechend kann der Tatrichter, dem die erforderliche Sachkunde zur Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage fehlt und der davon absehen will, von Amts wegen gem. § 144 ZPO sachverständige Hilfe in Anspruch zu nehmen, die beweisbelastete Partei auf die Notwendigkeit eines Beweisantrags nach § 403 ZPO hinweisen (BGH NZM 2019, 334 Rn. 18 = FD-ZVR 2019, 415465 mAnm. Toussaint). Danach obliegt es in erster Linie der beweisbelasteten Partei bzw. ihrem Prozessbevollmächtigten, selbst darüber zu entscheiden, welche Beweismittel angeboten werden. Dies gilt insbes. bei der Einholung eines grds. mit einem höheren Kostenaufwand verbundenen Gutachtens (BGH NZM 2019, 334 Rn. 19 = FD-ZVR 2019, 415465 mAnm. Toussaint). Vor diesem Hintergrund ist es idR nicht ermessensfehlerhaft, wenn der Tatrichter von der amtswegigen Einholung eines Sachverständigengutachtens nach einem Hinweis – der nicht fehlen darf – absieht (BGH NZM 2019, 334 Rn. 19 = FD-ZVR 2019, 415465 mAnm. Toussaint).

BGH, Urteil vom 28.10.2021 - VIII ZR 264/19, BeckRS 2021, 38267