Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Hans-Jochem Mayer, Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Bühl
Aus beck-fachdienst Vergütungs- und Kostenrecht 18/2020 vom 10.09.2020
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Sachverhalt
Im Anschluss an ein Strafverfahren wurde bei der Abrechnung der Pflichtverteidigervergütung mit der Staatskasse streitig, ob der Zuschlag zur Grundgebühr VV 4100 RVG iSv V 4101 RVG angefallen ist. Denn der Angeklagte fand sich zu einem späteren Zeitpunkt des Verfahrens als zur Zeit der Einarbeitung des Verteidigers in Haft. Die Erinnerung des Verteidigers gegen den Festsetzungsbeschluss des AG Nürnberg, in welchen der Haftzuschlag nicht festgesetzt wurde, hatte Erfolg.
Entscheidung: Verfahrensabschnitt bei VV 4100 RVG nicht von Bedeutung, spiegelbildlich auch auf den Zuschlag anzuwenden, Zuschlagsvoraussetzungen müssen nur in irgendeinem Verfahrensabschnitt gegeben sein
Gem. VV 4100 Anm. I RVG entstehe die Grundgebühr neben der Verfahrensgebühr für die erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall nur einmal, unabhängig davon, in welchem Verfahrensabschnitt sie erfolge. Unstreitig hätten hier Zuschlagsvoraussetzungen in der Weise vorgelegen, dass der Angeklagte sich im Verfahren in Haft befunden habe. Fraglich sei einzig und allein, ob trotz vorheriger Einarbeitung des Verteidigers, als sich der Angeklagte noch nicht in Haft befunden habe, sondern auf freiem Fuß gewesen sei, der Zuschlag auch dann anfalle, wenn der Angeklagte sich zu einem späteren Zeitpunkt des Verfahrens als zur Zeit der Einarbeitung des Verteidigers in Haft befunden habe.
Nach Auffassung des Gerichts sei dies der Fall. Hierfür spreche bereits der Wortlaut von VV 4100 Anm. I RVG, der für die Grundkonstellation die Entstehung der Verfahrensgebühr als einmalig für die erstmalige Einarbeitung definiere, und zwar unabhängig davon, in welchem Verfahrensabschnitt sie erfolge. Spiegelbildlich dazu könne nach der Systematik des Gesetzes für den Zuschlag iSv VV 4101 RVG nichts anderes gelten - auch diese falle an, und zwar unabhängig davon, in welchem Verfahrensabschnitt sie erfolge. Mithin sei es nicht erforderlich, dass die Zuschlagsvoraussetzungen zeitgleich zum Zeitpunkt der Einarbeitung vorgelegen hätten, sondern nur, dass diese in irgendeinem Verfahrensabschnitt gegeben gewesen seien. Nur so ergebe der Zuschlag Sinn. Denn der Aufwand bei Bearbeitung einer Haftsache sei ungleich höher als der einer Nicht-Haftsache; es könne daher nicht von rein zufälligen zeitlichen Konstellationen abhängen, ob der Zuschlag gewährt werde. Genau dies sage im Grundsatz schon VV 4100 RVG aus, indem deren Anm. I gerade unabhängig von der zeitlichen Einordnung die Grundgebühr auslöse. VV 4101 RVG sei genau in diesem Lichte zu lesen, weshalb es gerechtfertigt sei, dass ein etwaiger Mehraufwand, der einen Zuschlag rechtfertige, unabhängig von seiner zeitlichen Komponente rechtlich immer als Teil der Ersteinarbeitung zähle.
Praxishinweis
Die vom AG Nürnberg entschiedene Rechtsfrage ist in der Literatur bislang nur am Rande thematisiert worden. Teilweise wird vertreten, dass die Grundgebühr mit Zuschlag nach VV 4101 RVG entstehe, wenn der Beschuldigte während des Zeitraums, „für den die Gebühr entsteht“, sich nicht auf freiem Fuß befindet (Hartung in Hartung/Schons/Enders, RVG, 3. Aufl. 2017, VV 4100, 4101 RVG Rn. 19). Burhoff vertritt zunächst denselben Ansatz, konkretisiert aber weiter, dass es ausreichend sei, wenn der Mandant irgendwann während des Abgeltungsbereichs der Grundgebühr - Stichwort: Einarbeitung, nicht auf freiem Fuß sei (Burhoff in Gerold/Schmidt, RVG, 24. Aufl. 2019, VV 4100, 4101 Rn. 24 f.). Andere wiederum stehen auf dem Standpunkt, dass Voraussetzung für den Haftzuschlag bei der Grundgebühr ist, dass sich der Mandant irgendwann „während der Zeit der erstmaligen Einarbeitung des Rechtsanwalts“ sich nicht auf freiem Fuß befand (Kremer in Riedel/Sußbauer, RVG, 10. Aufl. 2015, VV 4101 RVG Rn. 2). Da beim Haftzuschlag ohne Belang ist, ob tatsächlich Erschwernisse für den Verteidiger durch die Inhaftierung entstanden sind (Burhoff in Gerold/Schmidt, RVG, 24. Aufl. 2019, VV Vorbem. 4 Rn. 47), spricht vieles für die Richtigkeit der vom AG Nürnberg vertretenen Auffassung).