Rechtsanwalt Joachim Zobel, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Schultze & Braun GmbH Rechtsanwaltsgesellschaft
Aus beck-fachdienst Insolvenzrecht 05/2022 vom 04.03.2022
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Sachverhalt
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit betriebsbedingter Kündigungen vom 27.3.2020 bzw. vom 29.6.2020. Die 59-jährige Klägerin (Kl.) ist seit 43,5 Jahren bei der Insolvenzschuldnerin beschäftigt. Zuletzt war sie als Angestellte in der Abteilung Marketing tätig, zuvor 35 Jahre in den Abteilungen Einkauf und Vertrieb. Am 27.3.2020 unterzeichneten der Insolvenzverwalter (Bekl.) und der Betriebsrat (BR) einen Interessenausgleich mit Namensliste gem. § 125 InsO (IA), auf welcher auch die Kl. namentlich genannt war. Im Rahmen der Sozialauswahl wurden die AN anhand ihrer zuletzt ausgeübten Tätigkeit den jew. Vergleichsgruppen (§ 1 Abs. 3 KSchG) – im Wesentlichen beschränkt auf die Abteilungen - zugeordnet. Nach Anhörung des BR kündigte der Bekl. der Kl. mit Schreiben vom 27.3.2020 zum 30.6.2020. Im Laufe des Verfahrens traf der Bekl. die unternehmerische Entscheidung den Betrieb der Insolvenzschuldnerin endgültig stillzulegen. Die Betriebsparteien unterzeichneten am 29.6.2020 einen weiteren IA (§ 125 InsO) der die Stilllegung des Betriebs in zwei Etappen und eine Ausproduktion bis zum 31.5.2021 vorsah. Hierzu sollten die für die Ausproduktion nicht erforderlichen AN zum nächstzulässigen Termin (§ 113 InsO) und die für die Ausproduktion erforderlichen AN zum 31.5.2021 gekündigt werden. Auch die Kl. war vorsorglich erneut auf einer der Namenslisten aufgeführt. Sämtliche Kündigungen wurden am 29.6.2020 ausgesprochen. Die Kl. erhielt eine Kündigung zum 30.9.2020, d.h. zum nächstzulässigen Termin. Sie beantragte vor dem ArbG Dortmund festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch keine der beiden Kündigungen aufgelöst wurde. Der Bekl. beantragte die Klage abzuweisen. Gegen das klagestattgebende Urteil des ArbG Dortmund legte der Bekl. fristgerecht Berufung ein.
Entscheidung
Das LAG Hamm erachtete die Berufung des Bekl. als unbegründet. Zwar seien beide Kündigungen durch dringende betriebliche Erfordernisse begründet, diese seien jedoch nach § 1 Abs. 3 KSchG sozialwidrig und damit unwirksam.
Hinsichtlich der Kündigung vom 27.3.2020 führt das LAG aus, diese sei aufgrund der lediglich abteilungsbezogen durchgeführten Sozialauswahl grob fehlerhaft. Auch im Insolvenzverfahren gelte der betriebsbezogene Kündigungsschutz des § 1 Abs. 3 KSchG. Der Prüfungsmaßstab der groben Fehlerhaftigkeit bei Abschluss eines IA beziehe sich sowohl auf die Auswahlkriterien und ihre Gewichtung, als auch auf die Bildung der Vergleichsgruppen. Die Sozialauswahl könne im Rahmen der Vergleichsgruppenbildung grob fehlerhaft sein, wenn die horizontale Vergleichbarkeit bzw. Austauschbarkeit der AN offensichtlich verkannt wurde. Die von den Betriebsparteien vorgenommene Vergleichsgruppenbildung anhand der zuletzt ausgeübten Tätigkeit entspreche den Grundsätzen der Sozialauswahl nicht, da dies fast zwangsläufig zu einer Begrenzung der Sozialauswahl auf die jeweilige Abteilung führe.
Hinsichtl. der Kündigung vom 29.6.2020 führt das LAG aus, diese sei aufgrund einer grob fehlerhaften Auswahlentscheidung sozialwidrig. Der Bekl. sei auch bei einer etappenweisen Betriebsstilllegung gehalten, bei der Entscheidung, welche AN zum nächstzulässigen Termin gekündigt und welche AN bis zum Ende der Ausproduktion beschäftigt werden, soziale Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Er habe bei jeder Etappe, mit Ausnahme der letzten, eine Sozialauswahl vorzunehmen. Dies entspräche dem Sinn und Zweck des KSchG, den von einer Betriebsstilllegung betroffenen AN die Arbeitsplätze so lange wie möglich zu erhalten. Eine solche Sozialauswahl könne nur für Fälle entfallen, in denen sämtliche Arbeitsplätze zum selben Zeitpunkt entfallen oder allen AN gleichzeitig mit der jeweils für sie geltenden Kündigunsfrist gekündigt und noch vorhandene Aufträge lediglich im Rahmen der Kündigungsfrist abgearbeitet werden. Dass im vorliegenden Fall sämtliche Kündigungen gleichzeitig ausgesprochen wurden, stelle demgegenüber keinen der genannten Fälle dar, da weder sämtliche Arbeitsplätze zum selben Zeitpunkt entfielen, noch allen AN mit der Frist des § 113 InsO gekündigt wurde. Vielmehr seien die zum 31.5.2021 wirksam werdenden Kündigungen lediglich „vorzeitig“ ausgesprochen worden. Stelle man ausschließlich auf den gleichzeitigen Ausspruch der Kündigungen ab, hätte es der Arbeitgeber so in der Hand mit dem Ausspruch „vorzeitiger“ Kündigungen den in § 1 Abs. 3 KSchG verankerten Schutz sozial schwächerer AN zu unterwandern.
Die Revision wurde zugelassen.
Praxishinweis
Bei Abschluss eines IA gelten bzgl. der betriebsbezogenen Sozialauswahl (§ 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG) Besonderheiten und der Maßstab der groben Fehlerhaftigkeit. Auch die Bildung der Vergleichsgruppen kann nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Vergleichbarkeit bedeutet tatsächliche und rechtliche Einsetzbarkeit auf einem vorhandenen Arbeitsplatz; ein arbeitsplatzbezogener „Routinevorsprung“ ist ohne Belang. Die dem Arbeitgeber zumutbare Einarbeitungszeit ist von den konkreten Einzelfallumständen abhängig. Die Begrenzung auf die Abteilung ist grob fehlerhaft.
Der Arbeitgeber ist in der Ausgestaltung einer Stilllegung frei. Ausgangspunkt ist der Zeitpunkt des Wegfalls der Beschäftigungsmöglichkeit: Stilllegung zu einem bestimmten Zeitpunkt und damit einheitliches Entfallen aller Arbeitsplätze (keine Sozialauswahl erforderlich) oder: schnellstmögliche Stilllegung unter Einhaltung der maßgeblichen Kündigungsfrist und Durchführung von Restarbeiten in der Kündigungsfrist (keine Sozialauswahl erforderlich).
Bei der etappenweisen Stilllegung (mit befristeten Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten) ist für jede Etappe eine Sozialauswahl gem. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG durchzuführen. Der „Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit“ und die Zuordnung der AN zu den „Etappen“ ist daher im IA in der Beschreibung der Betriebsänderung, der Definition der jeweiligen Tätigkeit, den Anforderungen an die „Etappen-Teams“ und der Bildung der Vergleichsgruppen ausdrücklich zu regeln, in den „Etappen-Namenlisten“ zu dokumentieren und es ist eine Sozialauswahl erforderlich.
LAG Hamm, Urteil vom 10.09.2021 - 16 Sa 143/21 (ArbG Dortmund), BeckRS 2021, 43084