Interview
Grenzenlose Strafverfolgung
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EPPO

Kriminelle haben einen neuen Gegner: Am 1.6. hat die Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) ihre Arbeit aufgenommen. Befasst hat sie sich seither bereits mit mehr als 2.000 Verdachtsfällen, wie ihr Vizechef Andrés Ritter der NJW sagte. Das erste Verfahren kam aus Deutschland und betrifft ein mutmaßliches Umsatzsteuerkarussell. Wir haben mit ihm über die Möglichkeiten der neuen Behörde gesprochen – und über deren Grenzen.

2. Dez 2021

NJW: Bei der Vielzahl an Fällen, die Sie bereits bearbeiten, fragt man sich: Wie wurde so etwas denn vorher verfolgt?

Ritter: Seit unserem operativen Start hatten wir bereits weit über 2.000 Prüffälle, in denen wir klären, ob wir zuständig sind und es zweckmäßig ist, dass wir Verfahren übernehmen bzw. selbst einleiten. Daraus haben wir bis Ende Oktober rund 450 Ermittlungsverfahren eröffnet. Der erste Fall wurde am 1.6. knapp um 7 Uhr morgens bei der EUStA registriert und wird von einem unserer Kollegen in München geführt. Solche Fälle sind zwar auch vorher ermittelt worden – aber der Wirkungsgrad von Strafverfolgung in diesem Bereich war recht beschränkt. Wir bringen jetzt einen Mehrwert ein: Wir sind eine supranationale Staatsanwaltschaft, und das bedeutet, dass wir in allen derzeit 22 Mitgliedstaaten, die an dem Projekt teilnehmen, unmittelbar tätig sein können.

NJW: Was sind weitere Vorteile?

Ritter: Die Notwendigkeit von relativ aufwendiger Rechtshilfe entfällt, die Erkenntnisse werden unmittelbar ausgetauscht. Und wir haben die Möglichkeit, aus Luxemburg heraus einen Gesamtüberblick über Kriminalitätsphänomene über die Grenzen hinweg zu bekommen. Gerade dieser sehr erfahrene Wirtschaftsstaatsanwalt aus München hat nach ein paar Wochen gesagt: Ich kann wirklich nicht glauben, wie gut und wie anders es jetzt funktioniert. Innerhalb von sechs Wochen war es in einem seiner Verfahren möglich, gleichzeitig eine Durchsuchung in fünf Mitgliedstaaten durchzuführen und die Erkenntnisse unmittelbar auszutauschen.

NJW: Zuständig sind Sie nur für den Schutz der finanziellen Interessen der EU. Ist das nicht ein viel zu kleiner Ausschnitt aus der grenzüberschreitenden Kriminalität?

Ritter: Die Entscheidung, ob die Zuständigkeit ausgeweitet wird, wird nicht von uns getroffen, sondern von den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission. Meine persönliche Auffassung dazu ist, dass dort eine Europäisierung stattfinden kann, wo die Strafverfolgung auf europäischer Ebene effektiver ist – aber immer eingedenk des Subsidiaritätsprinzips. Bei dem Bereich der finanziellen Interessen der EU sollte es jedem einleuchten können, dass ein grenzüberschreitender Ansatz sinnvoll ist, wenn der Geschädigte der europäische Steuerzahler ist. Außerdem kommt es darauf an, ob die jeweiligen Bereiche vergemeinschaftet sind; im Umweltstrafrecht beispielsweise könnte ich mir deshalb eine solche Ausweitung gut vorstellen.

NJW: Am besten überall?

Ritter: Es gibt auch Bereiche, in denen die nationale Strafverfolgung und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit gut funktionieren: Es kann nicht darum gehen, dass man alles auf die europäische Ebene hebt. Das schließt aber nicht aus, dass wir zumindest im Umkreis unserer Ermittlungen auch mit Querbezügen zu organisierter Kriminalität wie Drogenkriminalität in Kontakt kommen. So haben wir bei einer Aktion wegen eines Mehrwertsteuerkarussells als Zufallsfund auch sieben Kilogramm Rauschmittel gefunden. Zumal wir im Zuge einer Annexkompetenz auch zuständig sind für untrennbar mit unseren Hauptaufgaben verbundene Strafsachen, etwa bei einer Mafia-Organisation, die Straftaten des Agrarsubventionsbetrugs begeht.

NJW: Gibt es „Problemstaaten“ – manche EU-Länder haben ja ein beträchtliches Korruptionsproblem?

Ritter: Wir sind vor allem mit einer Eigenschaft ausgestattet worden – Unabhängigkeit. Wir sind weder dem Parlament noch dem Rat noch der Kommission noch insbesondere irgendeinem Mitgliedstaat gegenüber weisungsgebunden. Das gilt nicht nur für die Zentrale in Luxemburg, sondern ebenso für unsere Kollegen, die in den Mitgliedstaaten arbeiten, also die Delegierten Europäischen Staatsanwälte. Sie werden hier von uns ausgewählt, auch wenn es Vorschläge der Mitgliedstaaten sind. In Einzelfällen haben wir Kandidaten, die uns vorgeschlagen wurden, nicht ernannt. Sie sind auch organisatorisch nicht abhängig von den nationalen Behörden. Dass Korruption nicht nur in Osteuropa immer ein Problem sein kann, wenn große Summen Geld im Spiel sind, ist eine Binsenweisheit. Daher achten wir immer besonders darauf, dass wir die Strafverfolgung unabhängig durchführen, ohne Ansehen der Person und ohne Einflüsse von außen – und ohne, dass Informationen abfließen können. So ist in einem unserer Ermittlungsverfahren auch gerade in Kroatien eine ehemalige Ministerin festgenommen worden. Dem Informationsabfluss ist auch insofern ein Riegel vorgeschoben, als wir mit einer eigenen Datenbank arbeiten und innerhalb des Systems Zugang zu einem Fall nur jene haben, die den Fall auch wirklich bearbeiten.

NJW: Also im Prinzip läuft es gut?

Ritter: Nach meinem Eindruck sehr gut sogar. Die Zusammenarbeit mit Mitgliedstaaten als solche gestaltet sich aber unterschiedlich: Das muss sich teilweise erst einspielen, wenn wir etwa mitunter darum kämpfen müssen, dass wir Zugang zu nationalen Datenbanken bekommen. Unser größeres Problem ist Slowenien, wo wir derzeit nur sehr eingeschränkt tätig werden können: Von dort aus hat man uns noch keine Delegierten Europäischen Staatsanwälte vorgeschlagen – diese Hängepartie zieht sich schon fast ein Jahr hin. Medienberichten zufolge liegt das daran, dass dem Premierminister die an sich ausgewählten Kandidaten nicht genehm waren. Damit ist jedoch der Schutz des EU-Haushalts dort nicht gewährleistet, obwohl mit dem Next Generation Fund demnächst in ganz Europa 750 Milliarden Euro ausgezahlt werden sollen.

NJW: Klappt die Arbeitsteilung zwischen Ihrer Zentrale in Luxemburg und Ihren bald 140 Mitarbeitern vor Ort, genannt „Delegierte Europäische Staatsanwältinnen und Staatsanwälte“ – davon elf in Deutschland, die auch noch auf fünf Städte verteilt sind?

Ritter: Das ist in der Tat eine große Herausforderung. In Deutschland als föderalem Staat haben wir fünf Standorte, also München, Frankfurt, Köln, Berlin und Hamburg. Da sitzen jeweils zwei bzw. drei Kollegen. Wir besprechen uns über Videokonferenzen, unser Fallbearbeitungssystem, über regelmäßige Koordinationstreffen. So können wir die räumliche Entfernung überwinden. Die ursprünglich erwogene alternative Struktur, wir würden alle in Luxemburg sitzen und jeweils bei Bedarf ausschwärmen, hätte auch Vorteile gehabt. Dann würde aber der lokale Bezug verloren gehen.

NJW: Wieweit sind die in die Hierarchie der deutschen Staatsanwaltschaften eingebunden? Treten Ihre Kollegen dann selbst beispielsweise vor deutschen Strafgerichten auf? Nehmen sie an Durchsuchungen und Verhaftungen teil?

Ritter: Sie haben ihren Status beispielsweise als deutsche oder französische Staatsanwälte behalten, aber sind in keine nationale Hierarchie eingebunden, also nicht etwa vom Generalstaatsanwalt oder vom LOStA abhängig, sondern nur uns verbunden. Wir übernehmen die Rolle einer deutschen Staatsanwaltschaft: Das ganze Verfahren läuft eigentlich so, wie man es kennt – vor dem nationalen Gericht und mit der jeweiligen Strafprozessordnung, aber mit uns als Anklagebehörde. Die deutschen Staatsanwaltschaften müssen uns mögliche Fälle melden, und wir können die dann an uns ziehen. Wir können aber auch selbst ein Verfahren einleiten, so wenn die Polizei oder ein Ministerium beim Verdacht einer Straftat an uns herantritt. Der Delegierte Europäische Staatsanwalt kann somit an Durchsuchungen teilnehmen, Verhaftungen veranlassen, Telefonüberwachungen beantragen – er hat alle Rechte, die ein deutscher Staatsanwalt hätte, und das sogar bundesweit. Verankert ist das hierzulande im „Gesetz zur Durchführung der EU-Verordnung zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft“ (EUStAG). Die Gerichte werden das vor allem daran merken, dass der Briefkopf ein anderer ist und die Akten eine andere Farbe haben, nämlich blau.

NJW: Wie wird bei der Wahl des Anklagelands das Prinzip des gesetzlichen Richters gewährleistet?

Ritter: Aus der Verordnung ergibt sich ein Kriterienkatalog für unsere örtliche Zuständigkeit. Das erste ist, wo das Schwergewicht der Tat liegt. Auch die Nationalität des Beschuldigten und sein Wohnort sind von Bedeutung. Kein Kriterium ist aber, wo wir das Verfahren am leichtesten führen können: Die Verteidiger müssen also nicht befürchten, dass wir forum shopping betreiben. Und das materielle Recht, das ja in vielen Bereichen noch nicht harmonisiert ist, ist jeweils das jenes Mitgliedstaats, in dem die Hauptverhandlung durchgeführt wird.

NJW: Braucht man denn wirklich immer noch zusätzlich OLAF und Eurojust – gibt es da keine Reibungsverluste?

Ritter: Die gibt es ganz und gar nicht. Mit OLAF sind unsere Aufgabenbereiche komplementär, weil sie auch in unserem Tätigkeitsbereich für verwaltungsrechtliche Ermittlungen zuständig sind. Wir können sie als Auswerte- und Ermittlungsbehörde einbinden. Nehmen wir einen Fall von Agrarsubventionsbetrug – Äcker, die angeblich bewirtschaftet werden und bei denen den Falschangaben ein betrügerischer Vorsatz zugrunde liegt. Damit ist es ein Fall für die Europäische Staatsanwaltschaft. Aber es gibt auch die Konstellation, dass die Felder tatsächlich bewirtschaftet wurden, jedoch vielleicht mit solchen Kulturen, bei denen nicht so eindeutig ist, ob die Gelder ausgekehrt werden durften oder ob sie verwaltungsrechtlich zurückgefordert werden müssen. Und in Bezug auf Eurojust haben wir in den Bereichen, für die wir zuständig sind, weitgehend deren Aufgaben übernommen. Doch es ist ein Haushalt der 27 und nicht der 22: Bei Fällen, die etwa in Ungarn oder Polen spielen, können wir über Eurojust auch eine Zusammenarbeit mit diesen Ländern einrichten, beispielsweise gemeinsame Ermittlungsgruppen bilden.

NJW: Wie haben Sie denn persönlich Ihren Wechsel und den damit verbundenen Umzug bewältigt?

Ritter: Ich liebe es, in Luxemburg zu arbeiten. Mit Kollegen aus 22 Mitgliedstaaten. Es ist eine ausgesprochen spannende und bereichernde Erfahrung.

Andrés Ritter war seit 1995 bei verschiedenen Staatsanwaltschaften tätig, bevor er 2008 Stellvertretender Generalstaatsanwalt von Mecklenburg-Vorpommern wurde. Ab 2010 leitete er mehrere Staatsanwaltschaften, zuletzt 2013–2020 war er Leitender Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Rostock. Am 11.11.2020 wurde er zum stellvertretenden Europäischen Generalstaatsanwalt ernannt.

Interview: Joachim Jahn