Kolumne

Graubereiche im Rechtsstaat
© Nicola Quarz

Auf ihrer unermüdlichen Suche nach Strafbarkeitslücken, getragen auch von der vielzitierten „neuen Lust am Strafen“, widmet sich die Rechtspolitik öffentlichkeits- oder zumindest medienwirksam aktuell dem sogenannten Catcalling, worunter die nicht-physische, vor allem verbale sexuelle Belästigung verstanden wird; auch sexuell konnotierte Gesten oder aufdringliche Blicke können darunter fallen.

29. Sep 2025

Der Begriff, dem seinerseits ein sexistischer Unterton zugeschrieben wird, ist unscharf, die Grenzen zwischen missglücktem Kompliment und plumpem Anbaggern einerseits und einer – so ein aktueller Gesetzesvorschlag – Verletzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung durch eine erhebliche, sexuell bestimmte verbale oder non-verbale Belästigung andererseits, sind fließend, zumal hierbei auf Täter- wie Opferseite subjektive Momente, sexuell bestimmtes Verhalten und subjektives Empfinden eine maßgebliche Rolle spielen würden. Dass dabei Grauzonen entstehen würden, wird auch von Seiten der Rechtspolitik, hier in Gestalt der Bundesjustizministerin, eingeräumt. Bemerkenswert aus verfassungsrechtlicher Sicht ist deren Largesse im Umgang mit diesem Kernelement einer rechtsstaatlich liberalen Strafrechtspflege. Sie wird mit den Worten zitiert: „Unser Rechtsstaat ist gut darin, mit solchen Graubereichen umzugehen – und es nicht zu übertreiben.“ Ob nicht auch „unser Rechtsstaat“ gelegentlich zu Übertreibungen neigt, sei hier dahingestellt, aktuelle Beispiele intensivster strafprozessualer Eingriffe bei geringfügigen Straftaten lassen Zweifel aufkommen. Der Verweis jedoch auf den Rechtsstaat, der gut im Umgang mit Graubereichen sei, greift aus verfassungsrechtlicher Sicht entschieden zu kurz. Im Strafrecht als einem Bereich höchster Eingriffsintensität gilt das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG als eine verlässliche rechtsstaatliche Garantie, „die eine klare Orientierung zu geben hat, was strafbar und was straflos ist“ (BVerfG NJW 2005, 2289).

Es ist der Gesetzgeber, der von Verfassungs wegen gehalten ist, diese Orientierung zu geben, die Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns zu garantieren. Ihm obliegt die Grenzziehung zwischen strafbarem und straflosem Verhalten. Sie von vornherein auf die Rechtsprechung, denn sie ist mit „unserem Rechtsstaat“ hier gemeint, zu verlagern, verkennt die verfassungsrechtliche Garantiefunktion des Strafgesetzes. Je weniger aber bereits der Gesetzgeber in der Lage ist, strafwürdige Verhaltensweisen klar rechtsgutbezogen einzugrenzen, desto fragwürdiger wird hier der Einsatz des Strafrechts, das nach dem alle staatliche Gewalt bindenden Gebot der Verhältnismäßigkeit ultima ratio gegen sozialschädliche Verhaltensweisen zu sein hat. Das Anliegen, Wandel in gesellschaftlichen Normen und Vorstellungen über den Umgang mit Sexualität im Strafrecht abzubilden, rechtfertigt keine Abstriche an den elementaren Errungenschaften des liberalen Rechtsstaats. Sie setzen der „neuen Lust am Strafen“ Schranken.

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Prof. Dr. Christoph Degenhart ist Professor für Staats- und Verfassungsrecht sowie Medienrecht an der Universität Leipzig.