NJW-Editorial
Globalisierung der Grundrechte?
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Foto Florian Meinel_WEB
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Dass zwischen dem normativen Versprechen der Grundrechte und ihrer Verletzung im Einzelfall zu unterscheiden ist, ist verfassungsrechtliches Allgemeingut. Seit Beginn der Pandemie verstehen es auch die Menschen im Lande, die meisten jedenfalls. Sind öffentliche Interessen gewichtig genug, reduzieren sich Freiheitsrechte auf Rechtfertigungsansprüche gegen staatliche Institutionen. Das Verfahren dieser Rechtfertigung bezeichnet man als Abwägung. Wer darin eine verlässliche Prozedur sieht, wird die möglichst weitgehende Ausdehnung der Grundrechtsgeltung für eine gute Idee halten.

4. Jun 2020

Niemand ist dabei bisher weitergegangen als der Erste Senat des BVerfG in seinem Urteil vom 19. Mai (1 BvR 2835/17, BeckRS 2020, 8777). Danach ist der BND auch bei der Erfassung von Daten von Ausländern im Ausland auf Fernmeldegeheimnis und Pressefreiheit verpflichtet. Grundrechte gelten ohne jede personale oder territoriale Begrenzung. Aus Art. 1 GG folge der Vorrang grundrechtlichen Schutzbedarfs gegenüber Ort, Form und Art staatlichen Handelns. Dabei soll die Güterabwägung auch hier durch eine präzise Bestimmung des „Eingriffsgewichts“ rationalisiert werden. Diesen Prämissen folgen detaillierte Vorgaben zu Abhörmethoden, Datenselektion, Speicherfristen, Weitergabe und internationaler Kooperation. Das zukünftige institutional design ganzer Kontrollbehörden will der Senat im Wege der Grundrechtsabwägung gewonnen haben.

Die Praxis wird sich mit der Entscheidung wohl arrangieren. Grundrechtstheoretisch ist sie ein Einschnitt. Es ist eine liberale, keine nationalistische Vorstellung, dass Rechte politische Gemeinschaften konstituieren – und insofern auch räumlich begrenzt sind. Erst seit 1990 gibt es überhaupt ein BND-Gesetz. Auch der Gesetzgeber des Jahres 2017 ging noch selbstverständlich davon aus, dass die reine Auslandsaufklärung keinen Grundrechtsschranken unterliegt, und zitierte darum Art. 10 GG im BND-Gesetz nicht (Art. 19 I 2 GG). Auffällig ist auch der Gegensatz zur Rechtsprechung des Zweiten Senats, dem 2016 schon die nur mögliche Gefährdung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit genügte, um das parlamentarische Untersuchungsrecht gegenüber dem BND ins Leere laufen zu lassen (NVwZ 2017, 137). Kontrollrechte internationaler NGOs und unabhängiger Behörden, nicht aber des Deutschen Bundestags? Ob andere Verfassungsgerichte den avantgardistischen Schluss von den Grundrechtsproblemen der Globalisierung auf die Globalisierung der Grundrechte nachvollziehen werden, darf bezweifelt werden. Wie Terroristen, Industriespione, Potentaten und die übrige Kundschaft des Geheimdienstes das Urteil aufgenommen haben, ob mit Erleichterung, Häme oder verfassungstheoretischer Neugierde, weiß nur der BND selbst. Bis Ende 2021 darf er noch hinhören. •

Prof. Dr. Florian Meinel lehrt Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.