Urteilsanalyse
Gleichheitswidrige Eigenbeteiligung in der GKV
Urteilsanalyse
Lorem Ipsum
© Stefan Yang / stock.adobe.com

Für Versicherte, die in einem Heim oder einer ähnlichen Einrichtung leben und deshalb Hilfe zur Pflege gem. §§ 61 ff SGB XII in Anspruch nehmen müssen, errechnet sich nach einem Beschluss des BVerfG die Belastungsgrenze gem. § 62 SGB V nach dem Regelsatz für die Regelbedarfsstufe 1. 

8. Dez 2023

Rechtsanwalt Martin Schafhausen, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 24/2023 vom 08.12.2023

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Sozialversicherungsrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Sozialversicherungsrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Sozialversicherungsrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de

 

Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin, geboren 1938, lebt seit 01.07.2021 in einem Pflegeheim. Sie bezieht eine Altersrente i.H.v. 1.100 EUR. Mit Bescheid von Juli 2021 erklärte der Sozialhilfeträger, „gem. §§ 61 ff i.V.m. § 27b SGB XII die ... entstehenden nicht gedeckten Heimkosten“ zu übernehmen. Zugleich wurde der Eigenanteil festgesetzt, den die Beschwerdeführerin für die Heimkosten aufzubringen habe. Dabei hat der Sozialhilfeträger von den Renteneinkünften eine monatliche Bekleidungspauschale i.H.v. 23,50 EUR und einen Barbetragsanspruch i.H.v. 120,42 EUR in Abzug gebracht. Das verbleibende Einkommen ergebe den monatlich zu zahlenden Eigenanteil.

Auf den Antrag der Beschwerdeführerin an die beklagte Krankenkasse, die Belastungsgrenze gem. § 62 SGB X anhand des Regelsatzes festzusetzen, setzte die Kasse eine Belastungsgrenze von 132,04 EUR für das Jahr 2022 fest. Diese errechnete sie aus den Renteneinkünften. Die Beschwerdeführerin beziehe ausschließlich Leistungen nach dem 7. Kapitel des SGB XII. Der Sozialhilfeträger beteilige sich deshalb nicht an den „Kosten der Unterbringung in einem Heim“ i.S.d. § 62 Abs. 2 Satz 5 Nr. 2 SGB V. SG und LSG bestätigten diese Entscheidung (vgl. ebenso Nebendahl, in: Spickhoff Medizinrecht 4. Aufl. 2022 § 62 Rn. 24). Dagegen richtet sich die Verfassungsbeschwerde, mit der ein Verstoß gegen das Sozialstaatsprinzip sowie gegen den Gleichheitssatz gerügt wird.

Entscheidung

Die dritte Kammer des ersten Senats nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Annahme, eine Kostenübernahme für die Unterbringung in einem Heim i.S.d. § 62 Abs. 2 Satz 5 Nr. 2 SGB V setze die Kostenübernahme für Unterkunft und Verpflegung voraus, die nach dem 3. Kapitel des SGB XII erfolgen, entbehrt – so die Kammer ausdrücklich – „jeder nachvollziehbaren Grundlage“. 

Es fehle an einer Definition des Begriffs „Kosten der Unterbringung in einem Heim“ anhand der juristischen Auslegungsmethoden. Der Wortlaut der Vorschrift biete keine Anhaltspunkte dafür, dass nur dann, wenn der Sozialhilfeträger Leistungen für Unterkunft und Verpflegung nach dem 3. Kapitel des SGB XII gewährt, die Belastungsgrenze herabgesetzt wird. Systematische Erwägungen würden nur den Schluss zulassen, dass der Anwendungsbereich des § 62 Abs. 2 Satz 5 Nr. 2 SGB V auch dann eröffnet ist, wenn der Sozialhilfeträger im Hinblick auf die Unterbringungskosten andere als die genannten Leistungen nach dem 3. und 4. Kapitel des SGB XII erbringt. Dies entspreche auch der neueren Rechtsprechung des LSG Baden-Württemberg (u.a. BeckRS 2022, 26786) und des LSG Hamburg (BeckRS 2023, 7354).

Demgegenüber „beraubt“ die Auslegung des § 62 Abs. 2 Satz 5 Nr. 2 SGB V in der angegriffenen Entscheidung der Norm ihren selbständigen Anwendungsbereich. Diese Regelung nur dann anzuwenden, wenn die im Heim untergebrachten Versicherten noch Hilfe zum Lebensunterhalt bezögen, hätte zur Folge, dass der Regelung keine eigenständige Bedeutung zukommen würde, da ein Versicherter, der Hilfen zum Lebensunterhalt nach § 27 ff SGB XII erhält, bereits von § 62 Abs. 2 Satz 5 Nr. 1 SGB V erfasst wird. Die vom SG vorgenommene Einengung der Tatbestandsvoraussetzungen widerspreche offensichtlich der gesetzgeberischen Konzeption. Das Ergebnis der angegriffenen Entscheidung beruht auf einer Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG. Es ist keine mit herkömmlichen Auslegungsmethoden erzielbare Auslegung denkbar, die zu dem in der angegriffenen Entscheidung gefundenen Ergebnis kommt.

Praxishinweis

1. Die Entscheidung des SG entsprach einem weitgehend praktizierten und wohl auch akzeptierten Verständnis des Gesetzeswortlauts. Ob und inwieweit im Einzelfall Zuzahlungen als Mehrbedarf sozialhilferechtlich geltend gemacht werden können, ist eine andere Frage. Dies umso mehr als im Regelsatz Gesundheitskosten enthalten sind mit denen Zuzahlungen zu finanzieren sind. Etwas anderes könnte für den im vorliegenden Fall verbleibenden Barbetrag gelten.

2. Das LSG Baden-Württemberg (a.a.O.) und LSG Hamburg (a.a.O.) haben nun diese Vorschrift im Sinne der Antragsteller ausgelegt. Die Beschwerdeführerin hätte wohl gem. § 44 SGB X auf dem Verwaltungswege eine Korrektur ihrer Entscheidung erreichen können, nachdem die neuere Rechtsprechung auch in der Kommentarliteratur Ankerkennung gefunden hat (z.B. Schifferdecker, in: BeckOGK Sozialrecht § 62 SGB V Rn. 49).

3. Der Beschluss der 3. Kammer des 1. Senats ist ein Beitrag zum Schutz von behinderten Menschen vor eine Überforderung durch die Selbstbeteiligung in der gesetzlichen Krankenversicherung (dazu grundlegend Hergenröder, in: Festschrift Plagemann 2020, S. 121 ff.). 

BVerfG, Beschluss vom 22.9.2023 – 1 BvR 422/23 BeckRS 2023, 30229