Urteilsanalyse
Gleichbehandlung bei Nachtarbeit
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Eine tarifvertragliche Regelung, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Vergütungszuschlag vorsieht als für regelmäßige Nachtarbeit, führt - so der EuGH - die Richtlinie 2003/88/EG vom 4.11.2003 nicht i.S.v. Art. 51 I EU-GR-Charta durch.

1. Aug 2022

Anmerkung von
RA Prof. Dr. Jobst-Hubertus Bauer, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 29/2022 vom 28.07.2022

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Sachverhalt

Zwei Arbeitnehmer leisteten Nachtarbeit im Rahmen von Schichtarbeit für Coca-Cola. Für das Unternehmen gilt ein mit der Gewerkschaft NGG abgeschlossener Manteltarifvertrag. Dieser sieht für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Vergütungszuschlag vor als für regelmäßige Nachtarbeit. Die Betroffenen sind der Auffassung, dies begründe eine Ungleichbehandlung, die gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung i.S.v. Art. 3 GG und Art. 20 EU-GR-Charta verstoße. Sie haben deshalb Klage bei dem für sie zuständigen ArbG eingelegt und verlangten die Zahlung der Differenz zwischen den erhaltenen Vergütungen und den Vergütungen, die bei Anwendung der im MTV für unregelmäßige Nachtarbeit vorgesehenen Zuschlagsätze zu zahlen gewesen wären. Coca-Cola vertrat die Ansicht, unregelmäßige Nachtarbeit falle in sehr viel geringerem Umfang an als regelmäßige Nachtarbeit. Der höhere Vergütungszuschlag sei gerechtfertigt, weil unregelmäßige Nachtarbeit typischerweise Mehrarbeit bedeute. Außerdem begründe regelmäßige Nachtarbeit einen Anspruch auf zusätzliche Vergünstigungen, insbesondere in Form von Freizeit. Der höhere Vergütungszuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit solle nicht nur die Erschwernis dieser Art von Arbeit ausgleichen, sondern den Arbeitgeber auch davon abhalten, durch Anordnung von Nachtarbeit spontan in die Freizeit und das Sozialleben seiner Arbeitnehmer einzugreifen.

Die Klagen wurden vom ArbG abgewiesen. Die dagegen eingelegten Berufungen beim LAG führten dazu, dass den Ansprüchen für einen Teil der fraglichen Zeiträume stattgegeben wurde, sie aber i.Ü. für verfallen erklärt wurden. Gegen diese Urteile legte Coca-Cola beim BAG Revision ein. Das BAG (FD-ArbR 2021, 434932) ist sich insbesondere im Unklaren, ob die aus § 7 Nr. 1 MTV resultierende Ungleichbehandlung der regelmäßigen Nachtarbeit im Verhältnis zur unregelmäßigen Nachtarbeit mit Art. 20 der EU-GRCharta vereinbar sei. Es hat deshalb die Verfahren ausgesetzt und dem EuGH vor allem folgende gleichlautende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Kann es gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 20 EU-GRCharta in Verbindung mit den Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie 2008/88 EG verstoßen, wenn für regelmäßige Nachtarbeit ein geringerer Ausgleich vorgesehen ist als für unregelmäßige Nachtarbeit?

Entscheidung

Die RL 2003/88 – so der EuGH –  sei mit Ausnahme des in ihrem Art. 7 I geregelten Sonderfalls des bezahlten Jahresurlaubs darauf beschränkt, bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu regeln, um den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten, sodass sie grds. keine Anwendung für die Vergütung der Arbeitnehmer finde. Zwar regelten Art. 8 bis 13 der Richtlinie 2003/88 die Nachtarbeit. Diese Bestimmungen beträfen jedoch nur Dauer und Rhythmus der Nachtarbeit, den Gesundheitsschutz und die Sicherheit der Nachtarbeiter sowie die Unterrichtung der zuständigen Behörden. Zwar sehe Art. 3 I des IAO-Überein­kommens über Nachtarbeit vor, dass besondere, durch die Art der Nachtarbeit gebotene Maßnahmen zugunsten der Arbeitnehmer zu treffen seien, einschließlich der Gewährung angemessener Entschädigungen, während Art. 8 dieses Übereinkommens bestimme, dass der Ausgleich in Form von Arbeitszeit, Entgelt oder ähnlichen Vergünstigungen der Natur der Nachtarbeit Rechnung zu tragen habe. Das Übereinkommen sei von der Union jedoch nicht ratifiziert worden, weshalb ihm in der Unionsrechtsordnung keine rechtliche Verbindlichkeit zukomme. Insgesamt stehe fest, dass mit der hier maßgeblichen tarifvertraglichen Regelung die Richtlinie 2003/88 nicht i.S.v. Art. 20, 51 I EU-GR-Charta durchgeführt werde.

Praxishinweis

Dem EuGH ist zuzustimmen. Die RL 2003/88 findet nach ihrem Wortlaut keine Anwendung für die Vergütung der Arbeitnehmer. Das BAG kann sich deshalb nur noch mit der Frage befassen, ob die Differenzierung gegen Art. 3 I GG verstößt. Das dürfte zu verneinen sein, weil andernfalls die Sache kaum dem EuGH vorgelegt worden wäre. So hat das BAG (FD-ArbR 2021, 434927) ohne Vorlage entschieden, dass eine Regelung in einem Tarifvertrag, nach der sich der Zuschlag für Nachtarbeit halbiert, wenn sie innerhalb eines Schichtsystems geleistet wird, gegen Art. 3 I verstoßen könne. Anders ist die Sach- und Rechtslage aber vorliegend. Die Tarifvertragsparteien haben hier ihren Gestaltungsspielraum aufgrund sachlicher Gründe m.E. nicht überschritten.

EuGH, Urteil vom 07.07.2022 - C-257/21 (BAG), BeckRS 2022, 15729