Urteilsanalyse
Glaubhaftmachung des Beschwerdewerts nach § 544 Abs. 2 S. 1 ZPO
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Im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ist das Angebot des Beschwerdeführers auf Vernehmung eines Zeugen nach Ansicht des BGH zur Glaubhaftmachung der Beschwer gemäß § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO nicht geeignet.

28. Mrz 2023

Anmerkung von
Rechtsanwalt beim BGH Dr. Guido Toussaint, Toussaint & Schmitt, Karlsruhe

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 06/2023 vom 24.03.2023

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Sachverhalt

Eine Klage der Verbraucherzentrale Bundesverband eV gegen eine Lebensmittelherstellerin auf Unterlassung von Aussagen auf der Verpackung des von der Beklagten produzierten und in Verkehr gebrachten veganen Joghurt-Ersatzes hatte vor dem LG Erfolg (LG Rostock MD 2021, 717). Das LG hat den Streitwert – wie vom Kläger angegeben – auf 15.000 EUR festgesetzt. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten nach Hinweiserteilung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen und den Streitwert ebenfalls auf 15.000 EUR festgesetzt (OLG Rostock GRUR-RS 2022, 2515). Eine Gegenvorstellung der Beklagten gegen die Streitwertfestsetzung ist ohne Erfolg geblieben.

Die Beklagte hat gegen den Beschluss des Berufungsgerichts Nichtzulassungsbeschwerde erhoben (§ 522 Abs. 3 ZPO iVm § 544 ZPO). In dieser verweist sie zur Frage des nach § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO erforderlichen Mindestbeschwerdewerts auf ihren unter Zeugenbeweis gestellten (teilweise bestrittenen) Vortrag im Berufungsverfahren, dass sie das streitgegenständliche Produkt in einer Größenordnung von circa 400.000 Bechern pro Monat produziere, die sie zu einem Verkaufspreis von circa 1,20 EUR pro Becher an den Handel abgebe, und hiervon circa 16% auf die streitgegenständliche Geschmacksrichtung Mango entfielen, was einem monatlichen Umsatz von circa 76.800 EUR entspreche, und dass die Umstellung zu Kosten von circa 50.000 EUR führe, sechs Monate benötige und mit einem Produktionsausfall von zwei Monaten einhergehe. Sie meint, es stünden Ausfälle und Kosten in deutlich sechsstelliger Höhe in Rede, so dass die Beschwer bei mindestens 100.000 EUR, jedenfalls aber deutlich über 20.000 EUR liege.

Entscheidung

Der BGH hat die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig verworfen, weil der Wert der von der Beklagten mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20.000 EUR nicht übersteige (§ 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).

Dass das für den Streitwert maßgebliche Klägerinteresse zu niedrig bewertet worden ist, ist nicht ersichtlich

Entgegen der Ansicht der Beschwerde habe das Berufungsgericht den Streitwert nicht ermessenfehlerhaft zu niedrig – und erst recht nicht willkürlich – auf 15.000 EUR festgesetzt. Das LG und das Berufungsgericht seien der indiziell zu berücksichtigenden Streitwertangabe des Klägers in der Klageschrift gefolgt, die die Beklagte erstmals in Frage gestellt habe, nachdem das Berufungsgericht darauf hingewiesen hätte, dass es die Berufung der Beklagten zurückweisen wolle. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Betrag von 15.000 EUR nicht das wirtschaftliche Interesse der Verbraucher an der Beseitigung einer rechtswidrigen Zutatenangabe auf der Verpackung des Produkts der Beklagten abbilde, seien weder vorgetragen noch ersichtlich. Die Behauptung der Beschwerde, die Streitwertangabe des Klägers sei prozesstaktischen Erwägungen und dem mit dem Klageverfahren einhergehenden Kostenrisiko geschuldet, entbehre der Substanz. Auf die Frage, ob die maßgebliche Rechtsnorm bereits Gegenstand einer höchstgerichtlichen Entscheidung in Deutschland oder einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gewesen sei, komme es für die Streitwertfestsetzung nicht an.

Ein 20.000 EUR übersteigende Beschwer der Beklagten ist nicht glaubhaft gemacht

Eine über 20.000 EUR liegende Beschwer der Beklagten habe die Beschwerde nicht glaubhaft gemacht. Ihr Vorbringen zu Umsatz und Umstellungskosten, das der Kläger bereits im Berufungsverfahren teilweise bestritten habe und im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren insgesamt bestreite, könne für die Wertfestsetzung im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht berücksichtigt werden. Soweit die Beklagte ihren Vortrag allein unter Zeugenbeweis gestellt habe, habe sie ihn nicht in geeigneter Weise glaubhaft gemacht, weil im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde, in dem ohne mündliche Verhandlung entschieden werden könne (§§ 128 Abs. 4, 544 Abs. 6 S. 1 ZPO) und regelmäßig entschieden werde, Angebote von Zeugen- und Sachverständigenbeweis nicht zur Glaubhaftmachung geeignet seien.

Praxishinweis

Die Zulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde setzt (ua) voraus, dass der Wert der Beschwer, die zum Gegenstand des Revisionsverfahrens gemacht werden soll, 20.000 EUR übersteigt (§ 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, vergleichbare Regelungen gibt es auch für die Berufung, § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, und bestimmte Beschwerden, vgl. etwa § 567 Abs. 2 ZPO, § 61 Abs. 1 FamFG, §§ 66 Abs. 2 S. 1, 68 Abs. 1 S. 1, 69 GKG, §§ 33 Abs. 3 S. 1, 56 Abs. 2 S. 1 RVG). Dieser Beschwerdewert ist vom (kosten- bzw. gebührenrechtlichen) Streit- bzw. Gegenstandswert (und auch vom Zuständigkeitswert) zu unterscheiden. Insbesondere sind unterschiedliche Interessen unter Heranziehung jeweils eigener Wertvorschriften zu bewerten. Während bei dem (für die Gerichtsgebühren maßgeblichen) Streitgegenstand das sog. Angreiferinteresse und bei dem (für die Anwaltsvergütung maßgeblichen) Gegenstandswert der Umfang des dem Rechtsanwalt erteilten Auftrag zu bewerten sind, ist beim Beschwerdewert das Interesse des Rechtsmittelklägers bzw. Beschwerdeführers an der Abänderung der angegriffenen Entscheidung zu bewerten. Die Bewertung erfolgt im Falle des Beschwerdewertes (nur) nach den Wertvorschriften der ZPO (§§ 2 ff. ZPO), während im Fall von Streit- und Gegenstandswert die besonderen Wertvorschriften der §§ 39 ff. GKG bzw §§ 22 ff. RVG (die allerdings teilweise auf die §§ 2 ff. ZPO verweisen, vgl. insbes. § 48 Abs. 1 S. 1 GKG) heranzuziehen sind. Eine Wertfestsetzung durch die Vorinstanz kann sich nur auf den Streitwert (§§ 62 ff. GKG, ggf. nach § 33 RVG auch auf den Gegenstandswert), niemals aber auf den Beschwerdewert beziehen, so dass für diesen in der Rechtsmittelinstanz auch keine Bindungswirkung besteht.

In der Praxis bedeutet dies, dass Streit- und Beschwerdewert (nur) dann identisch sind, wenn Kläger- und Rechtsmittelführerinteresse übereinstimmen (wenn also etwa nach Klageabweisung die Klage in vollem Umfang weiterverfolgt werden soll oder – regelmäßig – wenn der antragsgemäß verurteilte Beklagte weiterhin vollständige Klageabweisung begehrt) und im Ergebnis keine voneinander abweichenden Wertvorschriften anzuwenden sind (wie insbes. bei Geldzahlungen oder Herausgabe von Gegenständen, vgl. §§ 3, 6 ZPO, ggf. iVm § 48 Abs. 1 S. 1 GKG). Unterschiede ergeben sich aber insbes. dann, wenn Beschwerdegegenstand nur ein Teil des Streitgegenstands ist, wenn die Bewertung von Streit- und Beschwerdegegenstand nach auch im Ergebnis voneinander abweichenden Bestimmungen vorzunehmen ist (so etwa im Falle von Bestandsstreitigkeiten bei Miet- oder Pachtverhältnissen, vgl. einerseits §§ 8, 9 ZPO, andererseits § 41 GKG, hierzu etwa BGH NJW-RR 2016, 506 mAnm Toussaint FD-ZVR 2016, 375431) oder wenn die Besonderheiten der Beschwer einen „Perspektivwechsel“ hinsichtlich des zu bewertenden Interesse notwendig machen (so etwa im Falle eines Auskunftsanspruchs, vgl. hierzu ausführlich BGH ZEV 2012, 270 mAnm Toussaint FD-ZVR 2012, 329152).

In der besprochenen Entscheidung hat sich der BGH als Ausgangspunkt zunächst mit dem für den Streitwert maßgeblichen Angreiferinteresse des Klägers (= das satzungsmäßig wahrgenommene Interesse der Verbraucher und die gerade diesen drohenden Nachteilen) auseinandergesetzt. Dabei ist er von dem in der jüngeren Rechtsprechung formulierten Grundsätzen ausgegangen, dass eine insoweit erfolgte Festsetzung durch den Vorderrichter für den Beschwerdewert zwar keine Bindungswirkung für den BGH hat, dass aber die Parteien selbst gebunden sind an eine solche Festsetzung, die sie entweder selbst (zB durch entspr. Angaben nach § 61 GKG) herbeigeführt oder aber (insbes. im eigenen Kosteninteresse) unbeanstandet hingenommen haben (vgl. etwa BGH MDR 2021, 380 = NJOZ 2021, 1051 mAnm Toussaint FD-ZVR 2021, 435043). Im nächsten Schritt hat er sich dem – vom Angreiferinteresse (deutlich) verschiedenen – Interesse des Rechtsmittelklägers zugewandt, hat indessen eine (im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren innerhalb der Begründungsfrist erforderliche) ausreichende Darlegung und Glaubhaftmachung eines das Angreiferinteresse übersteigenden Wertes verneint. Soweit er zur Glaubhaftmachung (enger als § 294 Abs. 1 ZPO) nur präsente Glaubhaftmachungsmittel zugelassen hat, hat sich der der Senat der im Leitsatz (und vorstehend) zitierten Entscheidung des V. Zivilsenats angeschlossen.

Die Entscheidung zeigt im Übrigen, dass Fragen der Bewertung in den Eingangsinstanzen nicht nur unter dem Kostenaspekt betrachtet werden sollten, vielmehr dürfen Wertgrenzen für etwaige spätere Rechtsbehelfe nicht aus den Augen verloren werden.

BGH, Beschluss vom 24.11.2022 - I ZR 25/22 (OLG Rostock), BeckRS 2022, 43976