Urteilsanalyse
«Gewisser» Anfangsverdacht bei Encro-Chat-Nutzung
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Die Kommunikation über hochpreisige – verschlüsselte – Endgeräte begründet nach Ansicht des OLG Naumburg „jedenfalls einen gewissen Anfangsverdacht“ gegen deren Nutzer.

17. Mrz 2022

Anmerkung von 
Prof. Dr. Annika Dießner, HWR Berlin und Of Counsel bei Ignor & Partner GbR, Berlin

Aus beck-fachdienst Strafrecht 05/2022 vom 11.03.2022

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Sachverhalt

Die Angeschuldigten A und B befinden sich seit Januar 2021 in Untersuchungshaft. Die in den Haftbefehlen enthaltenen Vorwürfe decken sich in wesentlichen Teilen mit denjenigen in der Anklageschrift vom Mai 2021 und betreffen das unerlaubte Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (A) bzw. die Beihilfe dazu sowie den Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (B). Bei den Taten sollen die Angeschuldigten untereinander bzw. mit Kunden mittels „EnchroChat“-Telefonen kommuniziert haben. Nach Zulassung der Anklage und Eröffnung des Hauptverfahrens legt das LGt die Akten dem Senat zur Entscheidung gemäß §§ 121, 122 StPO vor.

Entscheidung

Das OLG ordnet die Fortdauer der Untersuchungshaft an.

Die Voraussetzungen für die Haftbefehle lägen noch immer vor. Insbesondere sei sowohl bezogen auf A als auch auf B ein dringender Tatverdacht zu bejahen. Dies folge aus den geständigen Einlassungen von gesondert verfolgten Personen sowie aus der sichergestellten und ausgewerteten „EncroChat“-Kommunikation. Diese Daten unterlägen auch keinem Beweisverwertungsverbot.

Der Senat verweist zu diesem Zweck im Wesentlichen auf die Argumentation des 2. Strafsenats des OLG, die er wörtlich zitiert. Er verneint zunächst einen Verstoß gegen wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung. Insbesondere hindere der Umstand, dass in Deutschland eine Überwachung der internetbasierten Kommunikation in dieser Weise nicht in Betracht gekommen wäre, die Verwertbarkeit bei der vorzunehmenden Gesamtschau „noch“ nicht; weder liege ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK noch gegen den Grundsatz des ordre public vor. Die den Angeschuldigten zur Last gelegten Taten seien solche i.S.d. § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO, und die tatbezogene Kommunikation unterfalle keinem Kernbereichsschutz. Zudem begründe die Kommunikation über die hochpreisigen Endgeräte „jedenfalls einen gewissen Anfangsverdacht“ gegen deren Nutzer. Die Geräte seien nach den bislang vorliegenden Erkenntnissen „auch überwiegend“ zu kriminellen Zwecken eingesetzt worden. Auch sei zu berücksichtigen, dass die deutschen Strafverfolgungsbehörden die in Deutschland geltenden Regelungen zur Überwachung der Telekommunikation nicht planmäßig umgangen hätten. Deutschland habe sich an den Operationen der französischen Behörden nach derzeitigem Kenntnisstand nicht beteiligt; vielmehr seien die ermittelten Daten „spontan“ an die deutsche Polizei übermittelt worden. Ein Verbot folge auch nicht aus dem Verstoß gegen Bestimmungen des Rechtshilferechts. Schließlich führe der Umstand, dass dem Gericht bislang die „Rohdaten“ der Kommunikation nicht vorlägen und unbekannt sei, auf welche (nachrichtendienstliche) Weise die französischen Ermittlungsbehörden an die Daten gelangt seien und ob die Daten womöglich bereits vor der Versendung entschlüsselt und gesichert worden sind, nicht zu einem generellen Beweisverwertungsverbot. Etwaige Einschränkungen tangierten ggf. lediglich den Beweiswert. Dass die Kommunikation nicht so wie in der Anklageschrift geschildert, abgelaufen und die Zusammenstellung des Datenmaterials bewusst manipuliert worden sei, sei nicht ersichtlich.

Ergänzend verweist der Senat auf die Stellungnahme der GenStA, die er gleichfalls wörtlich wiedergibt. Auch insoweit wird auf höchstrichterliche Rechtsprechung zur Verwertbarkeit von „EncroChat“-Kommunikation im deutschen Strafverfahren Bezug genommen. Die Staatsanwaltschaften hätten „die Beweismittel nun einmal so vor[zu]legen, wie sie sind“, und Zweifel an der Integrität der Daten lägen fern. Bei dieser Sachlage geböten Amtsaufklärungs- und Legalitätsprinzip die Berücksichtigung der Beweismittel. Dem werde weder durch ein unselbständiges noch durch ein selbständiges Beweisverwertungsverbot Grenzen gesetzt. Insbesondere bestehe kein Fall eines selbständigen Beweisverwertungsverbots aus übergeordneten Rechtsgrundsätzen; dies erscheine angesichts der „gefestigten rechtsstaatlichen Verhältnisse“ in Frankreich und der engen Einbindung des Ermittlungsrichters in das französische Ermittlungsverfahren „auch abwegig“. Auch ein relatives Beweisverwertungsverbot komme nicht in Betracht. Eine nachrichtendienstliche Informationsbeschaffung oder ein mangelnder Anfangsverdacht seien keine Topoi, die einer Verwertbarkeit entgegenstünden, denn ihnen läge eine „unangemessen national verengte Sichtweise“ zugrunde. Europa sähe eine „Pluralität an validen und probaten Lösungsmodellen“ vor, und es komme auf das „Gesamtbild“ an; das Herausgreifen und Skandalisieren einzelner Elemente komme insoweit nicht in Betracht.

Praxishinweis

Die Entscheidung erschöpft sich im Wesentlichen in zwei „Großzitaten“ - die sich bei näherem Hinsehen in Teilen widersprechen. So sieht der 2. Strafsenat in der Nutzung der hochpreisigen Endgeräte jedenfalls einen „gewissen“ Anfangsverdacht, während die Generalstaatsanwaltschaft das Erfordernis eines (bestimmten) Verdachtsgrades bei grenzüberschreitenden Fällen wie dem vorliegenden kurzerhand für unmaßgeblich erklärt. Warum es den Beschuldigten in diesen Konstellationen verwehrt sein soll, die Umgehung solch fundamentaler Grundsätze in einem deutschen Strafverfahren durch einen Transfer von Beweismitteln aus dem Ausland anzugreifen, bleibt das Geheimnis der Generalstaatsanwaltschaft und des 1. Strafsenats. Die Frage wird hoffentlich bald höchstrichterlich geklärt werden.

OLG Brandenburg, Beschluss vom 04.08.2021 - 1 Ws 80/21 (S), 1 Ws 81/21 (S), BeckRS 2021, 45700