NJW-Editorial
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Das Jahr neigt sich dem Ende zu; hinter uns liegen turbulente Monate. Man braucht nur einen Blick auf die Webseite des BVerfG zu werfen und erhält einen Eindruck, mit welchen Herausforderungen unser Gemeinwesen konfrontiert ist. Bundesnotbremse, Klimaschutz, EU-, Parteien- oder Rundfunk- Finanzierung, Abschiebungen nach Afghanistan, islamischer Religionsunterricht, Wahlen zum Bundestag, Berliner Mietendeckel,
Münchener Flughafen oder das CETA-Freihandelsabkommen.

6. Jan 2022

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt der in Karlsruhe behandelten Fragen. Kein politisches Top-Thema kommt ohne Richterspruch des BVerfG aus, obwohl viele Anträge, jedenfalls aber die meisten Verfassungsbeschwerden unzulässig oder unbegründet sind. Betrachtet man die Rhetorik im Zusammenhang mit dessen Entscheidungen, scheinen manche in dem Gericht eine quasi-theologische Instanz zu sehen, die Weise aus dem Abendland mit der Autorität zur authentischen Auslegung der Heiligen Schrift versammelt. Was sagt das über unser Demokratie-Verständnis aus?

Skepsis ist angebracht, wenn acht Richterinnen und Richter eines Senats den (zurzeit) 736 allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim gewählten Abgeordneten des Bundestags die Leviten lesen; eine kleine Gruppe von Experten teilt den Volksvertretern oft erst nach vielen Monaten oder Jahren mit: So nicht! Das düpiert das Parlament. Zwar hält sich das BVerfG bei der Verwerfung formeller Gesetze seit jeher zurück; gerade erst hat es der Politik in seinen Beschlüssen zur Bundesnotbremse einen weiten (manche meinen: zu weiten) Spielraum eingeräumt. Aber wenn wir es mit dem wichtigsten Prinzip ernst meinen, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, dann sollte der Rang der von ihm unmittelbar legitimierten Institution gestärkt werden. Gesellschaftliche Grundsatzfragen müssen im Bundestag geklärt werden; dort entscheidet eine Mehrheit.

Natürlich muss sich auch die Mehrheit an das Grundgesetz halten. Und verfassungsgerichtliche Kontrolle gehört zum Wesen unseres demokratischen Rechtsstaats. Aber die Frage ist, wie und wo man diese ansetzt. Man könnte zur Präventivkontrolle zurückkehren, wie sie in Deutschland bis 1956 möglich und in Frankreich bis 2008 geboten war. Man könnte nach Ausfertigung eines Gesetzes die Verwerfungs- auf eine Auslegungskompetenz reduzieren; ggf. müsste die Ausfertigung einstweilen gestoppt werden. Man könnte erwägen, das BVerfG im Parlament zu überstimmen. Oder man könnte bei der Kontrolldichte noch stärker berücksichtigen, dass für den Gesetzgeber gem. Art. 1 I 1, 19 II, 79 III GG nur der Wesensgehalt der Grundrechte und Staatsfundamentalprinzipien unantastbar ist. Mehr Demokratie wagen – dieser Slogan bleibt zeitlos aktuell.

Prof. Dr. Christian Treffer lehrt Staats- und Zivilrecht sowie Juristische Methodik an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen.