Urteilsanalyse
Gesetzlicher Mindestlohn für ausländische Betreuungskräfte in Privathaushalten
Urteilsanalyse
Lorem Ipsum
© Stefan Yang / stock.adobe.com

Nach Deutschland in einen Privathaushalt entsandte ausländische Betreuungskräfte haben Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn für geleistete Arbeitsstunden. Dazu gehört - so das BAG - auch Bereitschaftsdienst. Ein solcher kann darin bestehen, dass die Betreuungskraft im Haushalt der zu betreuenden Person wohnen muss und grundsätzlich verpflichtet ist, zu allen Tag- und Nachtstunden bei Bedarf Arbeit zu leisten.

19. Jul 2021

Anmerkung von
RA Prof. Dr. Jobst-Hubertus Bauer, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 27/2021 vom 08.07.2021

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des wöchentlich erscheinenden Fachdienstes Arbeitsrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Arbeitsrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Arbeitsrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de.

Sachverhalt

Die Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Bulgarien. Sie war seit April 2015 bei der Beklagten, einem Unternehmen mit Sitz in Bulgarien, als Sozialassistentin beschäftigt. In dem in bulgarischer Sprache abgefassten Arbeitsvertrag ist eine Arbeitszeit von 30 Stunden wöchentlich vereinbart, wobei Samstag und Sonntag arbeitsfrei sein sollten. Die Klägerin wurde nach Berlin entsandt und arbeitete gegen eine Nettovergütung von 950 EUR/Monat im Haushalt einer über 90-jährigen zu betreuenden Person, bei der sie auch ein Zimmer bewohnte. Die Aufgaben der Klägerin umfassten neben Haushaltstätigkeiten (wie einkaufen, kochen, putzen etc.) eine Grundversorgung (wie Hilfe bei der Hygiene, beim Ankleiden etc.) und soziale Aufgaben (wie Gesellschaft leisten, Ansprache, gemeinsame Interessenverfolgung). Der Einsatz der Klägerin erfolgte auf der Grundlage eines Dienstleistungsvertrags, in dem sich die Beklagte gegenüber der zu betreuenden Person verpflichtete, die aufgeführten Betreuungsleistungen durch ihre Mitarbeiter in deren Haushalt zu erbringen.

Mit ihrer im August 2018 erhobenen Klage hat die Klägerin unter Berufung auf das MiLoG weitere Vergütung verlangt. Sie habe bei der Betreuung nicht nur 30 Wochen-stunden, sondern rund um die Uhr gearbeitet oder sei in Bereitschaft gewesen. Selbst nachts habe die Tür zu ihrem Zimmer offenbleiben müssen, damit sie auf Rufen der betagten Frau – etwa zum Gang auf die Toilette – Hilfe habe leisten können. Für Mai bis August 2015 und Oktober bis Dezember 2015 hat die Klägerin zuletzt die Zahlung von rund 43.000 EUR brutto abzgl. bereits gezahlter knapp 7.000 EUR netto nebst Prozesszinsen begehrt. Das LAG hat der Klage überwiegend entsprochen und ist im Wege einer Schätzung von einer Arbeitszeit von 21 Stunden kalendertäglich ausgegangen.

Entscheidung

Gegen die Annahme des LAG richten sich die Revision der Beklagten und die Anschlussrevision der Klägerin mit Erfolg. Das LAG habe – heißt es in der Pressemitteilung (FD-ArbR 2021, 440107) – im Ausgangspunkt zutreffend angenommen, dass die Verpflichtung zur Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns nach § 20 MiLoG i.V.m. § 1 MiLoG auch ausländische Arbeitgeber treffe, wenn sie Arbeitnehmer nach Deutschland entsendeten. Hierbei handele es sich um Eingriffsnormen i.S.v. Art. 9 I Rom I-VO, die unabhängig davon gelten würden, ob ansonsten auf das Arbeitsverhältnis deutsches oder ausländisches Recht Anwendung fände. Die Beklagte rüge jedoch mit Erfolg, das LAG habe ihren Vortrag zum Umfang der geleisteten Arbeit nicht ausreichend gewürdigt. Das LAG habe zwar zu Recht eine 24-Stunden-Betreuung durch die Klägerin in den Blick genommen, jedoch rechtsfehlerhaft bei der nach § 286 ZPO gebotenen Würdigung des gesamten Parteivortrags den Hinweis der Beklagten auf die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit von 30 Stunden/Woche nicht berücksichtigt, sondern hierin ein rechtsmissbräuchliches widersprüchliches Verhalten gesehen. Auch die Anschlussrevision der Klägerin sei begründet. Für die Annahme, die Klägerin habe geschätzt täglich drei Stunden Freizeit gehabt, fehle es an ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkten. Das LAG habe den Sachverhalt weiter aufzuklären, den Vortrag der Parteien umfassend zu würdigen und festzustellen, in welchem Umfang die Klägerin Vollarbeit oder Bereitschaftsdienst leisten musste und wie viele Stunden Freizeit sie hatte.

Praxishinweis

Dass die Klägerin mehr als die im Arbeitsvertrag angegebenen 30 Stunden/Woche zu arbeiten hatte, dürfte in der Tat nicht fernliegend sein, was am Ende der Pressemitteilung ausdrücklich hervorgehoben wird. Aber wie soll festgestellt werden, wie viele Stunden die Klägerin am Tag tatsächlich gearbeitet hat oder in Bereitschaft gewesen ist? Ist wirklich von 24 Stunden/Tag auszugehen? Dann könnte die teure häusliche Rundum-Pflege betagter Personen, die weder auf die Betreuung durch Familienangehörige noch deren finanzielle Hilfe oder eine ausreichende Pflegeversicherung zurückgreifen können, tatsächlich zu einem „Armageddon“ werden. Wie soll das Dilemma in einer immer mehr alternden Gesellschaft gelöst werden? Letztlich bliebe nur der Ruf nach dem Staat.

BAG, Urteil vom 24.06.2021 - 5 AZR 505/20 (LAG Berlin-Brandenburg)