NJW-Editorial

Ge­rech­tig­keit – eine An­sichts­sa­che?
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Von der so­zia­len bis zur glo­ba­len Ge­rech­tig­keit, von Ge­ne­ra­tio­nen­ge­rech­tig­keit bis zur Gen­der­ge­rech­tig­keit. Die Ge­rech­tig­keit scheint für viele Töpfe ein pas­sen­der De­ckel zu sein. Der­zeit hat das Thema auch Hoch­kon­junk­tur, wenn es um die Kehr­sei­te der Me­dail­le geht, die Un­ge­rech­tig­keit. Wo die (Un)Ge­rech­tig­keit aber bloß pla­ka­tiv für alles her­hal­ten muss, ver­kommt sie letzt­lich zu einer Wort­hül­se.

23. Jun 2021

Sie wird immer wie­der her­vor­ge­zau­bert: Die Ge­rech­tig­keit. Von der so­zia­len bis zur glo­ba­len Ge­rech­tig­keit, von Ge­ne­ra­tio­nen­ge­rech­tig­keit bis zur Gen­der­ge­rech­tig­keit. Die Ge­rech­tig­keit scheint für viele Töpfe ein pas­sen­der De­ckel zu sein. Der­zeit – so der Ein­druck – hat das Thema sogar Hoch­kon­junk­tur. Vor allem, wenn es um die Kehr­sei­te der Me­dail­le geht, die Un­ge­rech­tig­keit. In der Ta­ges­pres­se stößt man re­gel­mä­ßig eben­so dar­auf, wie in den Tie­fen so­zia­ler Me­di­en. Ein paar Bei­spie­le ge­fäl­lig? „Pri­vi­le­gi­en“ für Ge­impf­te? Un­ge­recht! Der Ber­li­ner Mie­ten­de­ckel und das Ur­teil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts dazu? Un­ge­recht! Von der „Un­ge­rech­tig­keit“ des „Klima“-Ur­teils ganz zu schwei­gen. Wo die (Un)Ge­rech­tig­keit bloß pla­ka­tiv für alles her­hal­ten muss, ver­kommt sie letzt­lich zu einer Wort­hül­se. Was bleibt aber von einem Be­griff, der nur noch als Buzz­word taugt?

Dass die Ge­rech­tig­keit ak­tu­ell ver­stärkt in den Blick gerät, kommt nicht über­ra­schend. Me­ga­trends wie In­di­vi­dua­li­sie­rung, Öko­lo­gie, Gen­der Shift, Ge­sund­heit oder Mo­bi­li­tät be­rüh­ren grund­sätz­li­che As­pek­te und er­öff­nen ein wei­tes Feld für Dis­kus­sio­nen. Und den­noch: Lohnt es über­haupt, sich der Ge­rech­tig­keit zu wid­men? Ist das nicht ein hoff­nungs­lo­ses Un­ter­fan­gen? Ein biss­chen kann man sich an die be­kann­te asia­ti­sche Volks­sa­ge über eine Grup­pe von Blin­den er­in­nert füh­len, die sich um einen Ele­fan­ten herum ver­sam­meln. Einer tas­tet an des­sen Bein und stellt fest: „Ein Ele­fant sieht wie eine Säule aus.“ Der zwei­te, der ein Ohr er­fasst, wi­der­spricht: „Kei­nes­wegs! Ein Ele­fant ist wie ein Fä­cher.“ „Oh nein“, sagt ein Drit­ter, der einen Rüs­sel hält: „Ein Ele­fant ist wie der Ast eines Bau­mes.“ Das Ganze ließe sich fort­set­zen. Ist Ge­rech­tig­keit nur noch eine per­sön­li­che An­sichts­sa­che?

John Rawls (1921 – 2002), des­sen Ge­burts­tag sich in die­sem Jahr zum 100. Mal jähr­te, hatte ver­sucht, uns mit dem „Schlei­er des Nicht­wis­sens“ einen Zu­gang zur Ge­rech­tig­keit zu schaf­fen. Ein wei­te­rer Ju­bi­lar in die­sem Jahr, Hans Kel­sen (1881–1973), frag­te in sei­ner Rei­nen Rechts­leh­re: Was ist Ge­rech­tig­keit? Keine an­de­re Frage sei so lei­den­schaft­lich er­ör­tert, für keine an­de­re Frage sei so viel kost­ba­res Blut, seien so viele bit­te­re Trä­nen ver­gos­sen wor­den, und über keine an­de­re Frage hät­ten die er­lauch­tes­ten Geis­ter – von Pla­ton bis Kant – so tief ge­grü­belt. Und doch sei diese Frage heute so un­be­ant­wor­tet wie je. Viel­leicht, so Kel­sen, weil sie eine jener Fra­gen ist, für die die re­si­gnier­te Weis­heit gilt, dass der Mensch nie eine end­gül­ti­ge Ant­wort fin­det, son­dern nur su­chen kann, bes­ser zu fra­gen.

Viel­leicht ist es genau das, was wir in ak­tu­el­len Zei­ten wie­der ver­stärkt brau­chen: Nicht gleich Ant­wor­ten parat zu haben, son­dern erst ein­mal die pas­sen­den Fra­gen zu ken­nen. Hier ist ein­mal mehr auch die ju­ris­ti­sche Zunft ge­for­dert. Denn wenn die Me­ga­trends ge­wohn­te Struk­tu­ren auf­bre­chen, was bleibt dann noch? Viel­leicht das Recht und damit ver­bun­den auch die Vor­stel­lun­gen von Ge­rech­tig­keit.

Prof. Dr. André Niedostadek, LL.M., lehrt an der Hochschule Harz in Halberstadt.