Sie wird immer wieder hervorgezaubert: Die Gerechtigkeit. Von der sozialen bis zur globalen Gerechtigkeit, von Generationengerechtigkeit bis zur Gendergerechtigkeit. Die Gerechtigkeit scheint für viele Töpfe ein passender Deckel zu sein. Derzeit – so der Eindruck – hat das Thema sogar Hochkonjunktur. Vor allem, wenn es um die Kehrseite der Medaille geht, die Ungerechtigkeit. In der Tagespresse stößt man regelmäßig ebenso darauf, wie in den Tiefen sozialer Medien. Ein paar Beispiele gefällig? „Privilegien“ für Geimpfte? Ungerecht! Der Berliner Mietendeckel und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dazu? Ungerecht! Von der „Ungerechtigkeit“ des „Klima“-Urteils ganz zu schweigen. Wo die (Un)Gerechtigkeit bloß plakativ für alles herhalten muss, verkommt sie letztlich zu einer Worthülse. Was bleibt aber von einem Begriff, der nur noch als Buzzword taugt?
Dass die Gerechtigkeit aktuell verstärkt in den Blick gerät, kommt nicht überraschend. Megatrends wie Individualisierung, Ökologie, Gender Shift, Gesundheit oder Mobilität berühren grundsätzliche Aspekte und eröffnen ein weites Feld für Diskussionen. Und dennoch: Lohnt es überhaupt, sich der Gerechtigkeit zu widmen? Ist das nicht ein hoffnungsloses Unterfangen? Ein bisschen kann man sich an die bekannte asiatische Volkssage über eine Gruppe von Blinden erinnert fühlen, die sich um einen Elefanten herum versammeln. Einer tastet an dessen Bein und stellt fest: „Ein Elefant sieht wie eine Säule aus.“ Der zweite, der ein Ohr erfasst, widerspricht: „Keineswegs! Ein Elefant ist wie ein Fächer.“ „Oh nein“, sagt ein Dritter, der einen Rüssel hält: „Ein Elefant ist wie der Ast eines Baumes.“ Das Ganze ließe sich fortsetzen. Ist Gerechtigkeit nur noch eine persönliche Ansichtssache?
John Rawls (1921 – 2002), dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum 100. Mal jährte, hatte versucht, uns mit dem „Schleier des Nichtwissens“ einen Zugang zur Gerechtigkeit zu schaffen. Ein weiterer Jubilar in diesem Jahr, Hans Kelsen (1881–1973), fragte in seiner Reinen Rechtslehre: Was ist Gerechtigkeit? Keine andere Frage sei so leidenschaftlich erörtert, für keine andere Frage sei so viel kostbares Blut, seien so viele bittere Tränen vergossen worden, und über keine andere Frage hätten die erlauchtesten Geister – von Platon bis Kant – so tief gegrübelt. Und doch sei diese Frage heute so unbeantwortet wie je. Vielleicht, so Kelsen, weil sie eine jener Fragen ist, für die die resignierte Weisheit gilt, dass der Mensch nie eine endgültige Antwort findet, sondern nur suchen kann, besser zu fragen.
Vielleicht ist es genau das, was wir in aktuellen Zeiten wieder verstärkt brauchen: Nicht gleich Antworten parat zu haben, sondern erst einmal die passenden Fragen zu kennen. Hier ist einmal mehr auch die juristische Zunft gefordert. Denn wenn die Megatrends gewohnte Strukturen aufbrechen, was bleibt dann noch? Vielleicht das Recht und damit verbunden auch die Vorstellungen von Gerechtigkeit.