Urteilsanalyse
Geltungsbereich des Mindestlohngesetzes - Anpassungsqualifizierungen
Urteilsanalyse
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Anpassungsqualifizierungen im Rahmen von Gleichwertigkeitsfeststellungen nach dem Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz sind nach einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts keine Praktika im mindestlohnrechtlichen Sinne. Sie unterfallen nicht dem persönlichen Geltungsbereich des MiLoG.

4. Mai 2021

Anmerkung von
Rechtsanwalt Dr. Frank Merten, Gleiss Lutz, Stuttgart

Aus beck-fachdienst Arbeitsrecht 17/2021 vom 29.04.2021

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Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns für die Zeit eines betrieblichen Anpassungslehrgangs. Der Kläger, der in Syrien einen Berufsabschluss im Gesundheitshandwerk Zahntechnik erworben hatte, absolvierte bei der Beklagten einen betrieblichen Anpassungslehrgang zur Ergänzung seines in Syrien erworbenen Qualifikationsnachweises. Das Rechtsverhältnis der Parteien endete auf Grund fristloser Kündigung der Beklagten. Mit seiner Klage begehrt der Kläger Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns für die Zeitdauer des Anpassungslehrgangs. Das ArbG hat der Klage stattgegeben, das LAG hat sie abgewiesen.

Entscheidung

Das BAG hat die Revision des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung führt es aus, der Kläger habe keinen Anspruch auf Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns. Er unterfalle nicht dem persönlichen Anwendungsbereich des MiLoG. Er sei nicht Arbeitnehmer i.S.v. § 22 I 1 MiLoG gewesen. Der gesetzlichen Regelung liege der nationale allgemeine Arbeitnehmerbegriff des § 611a I BGB zugrunde, nicht der unionsrechtlich zu bestimmende Arbeitnehmerbegriff. Dessen Heranziehung stehe entgegen, dass nach Art. 153 V AEUV die Kompetenzen der Union im Rahmen der Sozialpolitik nicht für das Arbeitsentgelt gelten. Gegenstand des Rechtsverhältnisses der Parteien sei die Vermittlung praktischer Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen im Bereich der vereinbarten Lerninhalte bzw. Lernziele gewesen. Umstände, auf Grund derer anzunehmen wäre, dass bei der tatsächlichen Ausgestaltung und Durchführung des Vertragsverhältnisses nicht die verabredete Ausbildung des Klägers, sondern die Leistung von Arbeit i.S.v. § 611a I BGB im Vordergrund gestanden hätte, seien weder festgestellt noch substantiiert vorgetragen. Der Kläger sei auch nicht Praktikant i.S.v. § 22 I 3 MiLoG gewesen. Nach dieser Vorschrift ist unabhängig von der Bezeichnung des Rechtsverhältnisses Praktikant, wer sich nach der tatsächlichen Ausgestaltung und Durchführung des Vertragsverhältnisses für eine begrenzte Dauer zum Erwerb praktischer Kenntnisse und Erfahrungen einer bestimmten betrieblichen Tätigkeit zur Vorbereitung auf eine berufliche Tätigkeit unterzieht, ohne dass es sich dabei um eine Berufsausbildung i.S.d. BBiG oder um eine damit vergleichbare praktische Ausbildung handelt. Die Anpassungsqualifizierung des Klägers sei eine mit der Berufsausbildung i.S.d. BBiG vergleichbare praktische Ausbildung und deshalb kein Praktikum i.S.d. MiLoG. Anpassungsqualifizierungen seien Maßnahmen im Zusammenhang mit der Anerkennung ausländischer Ausbildungsabschlüsse nach dem Berufsqualifikationsfeststellungsgesetz.

§ 22 I 3 MiLoG unterscheide zwischen Praktikanten i.S.v. § 26 BBiG, die Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nach dem MiLoG haben, wenn nicht einer der in § 22 I 2 Halbs. 2 Nr.1 bis 4 MiLoG aufgeführten Ausnahmetatbestände vorliegt und Personen, die sich einer Berufsausbildung i.S.d. BBiG oder damit vergleichbaren Ausbildung unterziehen, in der ein solcher Anspruch nicht besteht. Charakteristikum des Berufsausbildungsverhältnisses sei nach § 1 III BBiG, dass es die „berufliche Handlungsfähigkeit“ „in einem geordneten Ausbildungsgang“ vermittelt und den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrungen ermöglicht. Dem gegenüber sei für das Praktikum kennzeichnend, dass keine geregelte umfassende fachliche Ausbildung angestrebt wird. Eine systematische Berufsausbildung finde in einem Praktikum nicht statt. Die vom Kläger durchgeführte Anpassungsqualifizierung sei eine mit der Berufsausbildung vergleichbare praktische Ausbildung. Im Rahmen der Anpassungsqualifizierung finde auf der Grundlage eines vorgegebenen und geordneten didaktischen Konzepts eine Vorbereitung auf die spätere berufliche Tätigkeit statt. Dementsprechend sei der Kläger im Streitzeitraum nicht Praktikant der Beklagten i.S.v. § 22 I 3 MiLoG gewesen. In der gebotenen Gesamtschau werde deutlich, dass die von ihm durchgeführte Anpassungsqualifizierung einer strukturierten Berufsausbildung i.S.d. BBiG deutlich nähergestanden habe als einem Praktikum und damit die Voraussetzungen einer der Berufsausbildung „vergleichbaren praktischen Ausbildung“ i.S.v. § 22 I 3 Halbs. 2 Alt. 2 MiLoG erfüllt seien.

Praxishinweis

Das BAG führt mit seiner Entscheidung seine Rechtsprechung zur Abgrenzung zwischen Praktikum und Berufsausbildung i.S.d. MiLoG fort (vgl. BAG, BeckRS 2015, 71693). Dabei erteilt es der im juristischen Schrifttum vertretenen Auffassung, der Begriff der „vergleichbaren praktischen Ausbildung“ in § 22 I 3 MiLoG sei eng auszulegen und beziehe sich nur auf vergleichbare praktische Ausbildungen, deren Dauer mindestens zwei und höchstens drei Jahre betrage, eine Absage (Rn. 29 des Urteils). Zwar könne die Dauer der Qualifizierung ein Anhaltspunkt sein; entscheidendes Abgrenzungskriterium zwischen der Berufsausbildung und einer damit vergleichbaren praktischen Ausbildung einerseits und dem Praktikum andererseits sei jedoch die Systematik der Ausbildung.

BAG, Urteil vom 18.11.2020 - 5 AZR 103/20 (LAG Hamburg), BeckRS 2020, 44689