Urteilsanalyse
Geheimhaltungsanordnung zu kalkulatorischen Unterlagen eines Krankenversicherers im Beitragsanpassungsprozess
Urteilsanalyse
urteil_lupe
© Stefan Yang / stock.adobe.com
urteil_lupe

Im Rahmen des durch § 174 Abs. 3 GVG eröffneten Ermessens obliegt es grundsätzlich dem Tatrichter, unter Berücksichtigung der Gesamtumstände über den erforderlichen Umfang der Geheimhaltungsverpflichtung zu entscheiden. Der Tatrichter hat nach einem Beschluss des BGH jedenfalls für die Fälle des § 172 Nr. 2 und 3 GVG ein Auswahlermessen hinsichtlich der nach Ausschluss der Öffentlichkeit noch im Sitzungssaal verbleibenden und zur Geheimhaltung zu verpflichtenden Personen.

7. Jan 2022

Anmerkung von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Dirk-Carsten Günther
BLD Bach Langheid Dallmayr Rechtsanwälte Partnerschaftsgesellschaft mbB, Köln

Aus beck-fachdienst Versicherungsrecht 25/2021 vom 16.12.2021

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Versicherungsrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Versicherungsrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Versicherungsrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de

GVG §§ 172 Nr. 2 und 3, 174 III

Sachverhalt

Der Kläger, der bei der Beklagten eine private Krankenversicherung unterhält, wendet sich mit seiner Klage gegen mehrere von der Beklagten vorgenommene Beitragserhöhungen.

In der zunächst öffentlichen Sitzung des Landgerichts erschienen der Kläger mit seiner Prozessbevollmächtigen sowie eine Prozessbevollmächtigte der Beklagten. Nachdem für die weitere Verhandlung auf der Grundlage von § 172 Nr. 2 GVG die Öffentlichkeit ausgeschlossen worden war, beschloss die Zivilkammer nach Gewährung rechtlichen Gehörs, den Kläger und die Klägervertreterin, nicht aber die Beklagtenvertreterin hinsichtlich der Tatsachen, die in der Aufstellung als geheimhaltungsbedürftige Unterlagen markiert sind, zur Verschwiegenheit zu verpflichten.

Den gegen diesen Beschluss gerichteten sofortigen Beschwerden des Klägers und seiner Prozessbevollmächtigten hatte das Landgericht nicht abgeholfen. Das Oberlandesgericht hatte die Beschwerden zurückgewiesen und die Rechtsbeschwerde zugelassen.

Rechtliche Wertung

Die Rechtsbeschwerden haben keinen Erfolg. Landgericht und Beschwerdegericht seien zutreffend davon ausgegangen, dass hier die Anordnung einer Geheimhaltungsverpflichtung in Betracht kommt, entschied der BGH.

Im Rahmen des durch § 174 Abs. 3 GVG eröffneten Ermessens obliege es grundsätzlich dem Tatrichter, unter Berücksichtigung der Gesamtumstände über den erforderlichen Umfang der Geheimhaltungsverpflichtung zu entscheiden. Das Rechtsbeschwerdegericht könne lediglich überprüfen, ob der Tatrichter sein Ermessen verkannt, die Grenzen seines Ermessens überschritten oder von seinem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Gemessen hieran lasse die Beschlussfassung durch das Landgericht keine Ermessens- oder Rechtsfehler erkennen.

Die Geheimhaltungsanordnung sei nicht deshalb fehlerhaft, weil der Beschluss des Landgerichts auf die Bezeichnung der geheim zu haltenden Unterlagen beschränkt ist, ohne hierneben noch weitere Einschränkungen bezogen auf den Ausschluss von möglichen Vorkenntnissen der zur Geheimhaltung Verpflichteten vorzunehmen. Zwar umfasse die Geheimhaltungsverpflichtung nur solche Tatsachen, die dem zum Schweigen Verpflichteten nicht bereits vorher bekannt waren. Ein solcher Fall aber sei hier nicht gegeben. Für das Landgericht wie auch für das Beschwerdegericht habe nicht festgestanden, dass in der Person des Klägers wie auch in der Person der ihn in der mündlichen Verhandlung vertretenden Rechtsanwältin Vorkenntnisse bezogen auf die von der Geheimhaltungsanordnung betroffenen Unterlagen bestanden. Nicht ausreichend für eine Begrenzung des tatrichterlichen Ermessens sei es, wenn in der Beschwerdebegründung ausgeführt wird, dass «sämtliche/erhebliche Teile» der im Beschluss genannten Anlagen «den Klägervertretern bereits aus Parallelverfahren bekannt sein müssten».

Ein Ermessensfehler des Tatrichters folge auch nicht aus einer unzureichenden Aufklärung des Sachverhalts. Das Gericht sei nicht verpflichtet, von sich aus ohne weiteres umfangreiche Ermittlungen dazu anzustellen, hinsichtlich welcher im Gerichtssaal anwesenden Person nur noch ein eingeschränktes oder gar kein Bedürfnis für die Geheimhaltungsverpflichtung mehr besteht, weil ihr alle oder einige der aus Sicht des Geheimnisträgers zu schützenden Tatsachen bereits bekannt sind. Vielmehr könne das Gericht bei seiner Ermessensausübung auch ein nur möglicherweise bestehendes Geheimhaltungsinteresse berücksichtigen.

Die Geheimhaltungsverpflichtung sei auch nicht deshalb rechtsfehlerhaft, weil sie auf den Kläger und seine anwesende Prozessbevollmächtigte beschränkt und nicht auch auf die anwesende Beklagtenvertreterin erstreckt worden ist. Der Senat ist der Auffassung, dem Gericht sei ein Auswahlermessen jedenfalls für die Fälle des § 172 Nr. 2 und 3 GVG auch eröffnet hinsichtlich der nach Ausschluss der Öffentlichkeit noch im Sitzungssaal verbliebenen und zur Geheimhaltung zu verpflichtenden Personen.

Praxishinweis

Der BGH hat bereits wiederholt entschieden, dass die Zivilgerichte beim Streit zwischen Versicherungsnehmer und Versicherer über die Wirksamkeit einer Prämienanpassung im Rahmen einer privaten Krankenversicherung das Interesse des Versicherungsnehmers an einer Überprüfung der Berechnung der Prämienerhöhung mit dem schutzwürdigen Interesse des Krankenversicherers an der Geheimhaltung der Berechnungsgrundlagen in Ausgleich zu bringen haben. Insoweit haben die Zivilgerichte zu prüfen, ob dem Interesse des Versicherers an der Geheimhaltung der für die Prämienkalkulation maßgeblichen Berechnungsgrundlagen durch die Anwendung der §§ 172 Nr. 2, 173 Abs. 2174 Abs. 3 Satz 1 GVG Rechnung getragen werden kann (BGH, Beschluss vom 23.06.2021 - IV ZB 23/20, VersR 2021, 1120; Beschluss vom 14.10.2020 - IV ZB 4/20, VersR 2020, 1605; Urteil vom 09.12.2015 - IV ZR 272/15, VersR 2016, 177).

Auch im Übrigen bestätigt die vorliegende Entscheidung die vom IV. Zivilsenat bereits in den vorgenannten Entscheidungen aufgestellten Anforderungen an die dem Tatrichter eröffnete Ermessensentscheidung im Rahmen des § 174 Abs. 3 GVG.

In den letzten 14 Tagen sind folgende weitere Entscheidungen zur Beitragsanpassung in der privaten Krankenversicherung ergangen:

 

BGH, Beschluss vom 10.11.2021 - IV ZB 29/20 (OLG Schleswig), BeckRS 2021, 36395