Interview

Furchtbare Wehrmachtjuristen

Im Mai hat Nordrhein-Westfalens Justizminister Dr. Benjamin Limbach den jüngsten Band der Schriftenreihe „Juristische Zeitgeschichte“ vorgestellt, der sich mit der Wehrmacht­justiz während der NS-Zeit beschäftigt. In insgesamt neun Beiträgen werden Struktur und Wirken der Militärgerichtsbarkeit kritisch beleuchtet und damit eine der dunkelsten Phasen deutscher Justizgeschichte. Über die daraus gewonnenen Erkenntnisse haben wir uns mit dem Vorsitzenden Richter am LG und Leiter der Dokumentations- und Forschungsstelle „Justiz und Nationalsozialismus“ an der Justizakademie des Landes Nordrhein-Westfalen Dirk Reitzig unterhalten.

2. Jul 2025

NJW: Seit wann existierte in Deutschland nach Ende des Ersten Weltkriegs wieder eine Militärjustiz, und wie war sie während der NS-Zeit aufgebaut?

Reitzig: Die Militärjustiz wurde zunächst durch Gesetz im Sommer 1920 für Friedenszeiten im Grundsatz abgeschafft, für den Kriegsfall blieb sie jedoch ­bestehen. Die Nationalsozialisten führten eine um­fassende Militärgerichtsbarkeit zum 1.1.​1934 wieder ein. Heer, Luftwaffe und Marine verfügten jeweils über eine eigene Militärjustizorganisation mit Militärgerichten und Rechtsabteilungen, für Grundsatzfragen gab es eine Abteilung im Oberkommando der Wehrmacht. Die eigentlichen erkennenden Militärgerichte waren grundsätzlich mit einem Juristen und zwei soldatischen Beisitzern besetzt. Eine wichtige Besonderheit wiesen diese Gerichte organisatorisch auf: Ihnen stand mit dem jeweiligen Befehlshaber bzw. Kommandeur ein sogenannter Gerichtsherr vor, der bestimmte, welcher Richter in welchem Verfahren eingesetzt wurde. Es gab also keinen Anspruch auf den gesetzlichen Richter. Und, ebenso kritisch: Ihm oblag die Bestätigung der gefällten Urteile. Damit hatte der Richterspruch bis zu diesem Zeitpunkt faktisch nur den Wert eines Rechtsgutachtens. Der „Gerichtsherr“ wurde in seiner Aufgabe zwar durch Militärjustizbeamte beraten, dieses Institut verstieß dennoch gegen das rechtsstaatliche Gebot der Gewaltenteilung.

NJW: Über wie viele Militärgerichte und -richter sprechen wir? Und wer genau war ihnen unterworfen?

Reitzig: Nach belastbaren Schätzungen gab es bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs mindestens 2.500 Wehrmachtjuristen an über 1.000 Wehrmachtgerichten. Der Kreis der dem Verfahren im Krieg unterworfenen Personen umfasste – abgesehen von völkerrechtswidrigen Ausnahmen beim „Russlandfeldzug“ – sowohl die ­Soldaten als auch die Beamten der Wehrmacht, aber auch Kriegsgefangene und sämtliche Bewohner im Gefechtsgebiet der Wehrmacht.

NJW: Welche Funktion hatten die Wehrmachtgerichte während des Kriegs, von der „rechtsprechenden“ einmal abgesehen?

Reitzig: Diese Gerichte – während des Kriegs als Feldkriegsgerichte bezeichnet – hatten die Hauptverhandlung durchzuführen und mit Urteilsspruch zu beenden. Was von den Wehrmachtrichtern insoweit verlangt wurde, formulierte ein hoher Militärjurist noch vor ­Beginn des Kriegs unmissverständlich wie folgt: „Wir wollen nicht vergessen, dass der letzte Weltkrieg durch einen Dolchstoß in den Rücken des Heeres sein trauriges Ende fand. Diese Tatsache zeigt mit aller Deutlichkeit, wie wichtig auch unsere Aufgaben sind, und weist uns den Weg für unsere Arbeit. Nur eine schnelle und scharfe Justiz kann das notwendige Ziel erreichen. Alle Nebensächlichkeiten und das Wälzen juristischer Probleme sind unbedingt zu vermeiden.“

NJW: Welche Gesetze bildeten die Rechtsgrundlage für diese Verfahren?

Reitzig: Bezogen auf das Strafverfahrensrecht war ­zunächst die Militärstrafgerichtsordnung von November 1933 von Bedeutung, die inhaltlich weitgehend auf eine Anwendung im Frieden ausgerichtet war. Sie wurde bereits im August 1938 durch die Kriegsstrafverfahrensordnung ersetzt, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im Mai 1945 unter stetiger Verkürzung der Rechtsstellung des Angeklagten elfmal geändert wurde. Mit Blick auf das materielle Strafrecht waren insbesondere das Militärstrafgesetzbuch in der neuen Fassung von Oktober 1940, die Kriegssonderstrafrechtsverordnung von August 1938, deren Straftatbestände gerade auch von Zivilisten verwirklicht werden konnten, und das Reichsstrafgesetzbuch von Relevanz. Insofern ist bedeutsam, dass die Nationalsozialisten im Juni 1935 das Analogieverbot sowie das Rückwirkungsverbot im Reichsstrafgesetzbuch aufgehoben ­haben. Bestraft werden sollte nunmehr nach dem „gesunden Volksempfinden“.

NJW: Das könnte die über 20.000 Todesurteile er­klären, für die laut historischer Forschung die Wehrmachtjustiz mindestens verantwortlich war. Damit wir das richtig einordnen können: Wie verhält sich diese Zahl zu den vom Volksgerichtshof verhängten Todesurteilen?

Reitzig: Der berüchtigte Volksgerichtshof, seit August 1942 geführt von Roland Freisler, kam auf ungefähr 5.000 verhängte Todesurteile, die Sondergerichte insgesamt auf rund 10.000 Todesurteile. Damit war die Wehrmachtjustiz für mehr Todesurteile verantwortlich als der Volksgerichtshof und die Sondergerichte zusammen.

NJW: Was können Sie uns zu den Urteilen der Militärgerichte sagen? Insbesondere: Waren die reversibel?

Reitzig: Die Urteile wurden grundsätzlich im Rahmen einer öffentlichen Hauptverhandlung gefällt. Das Urteil wurde durch Verlesen der Urteilsformel und Eröffnen der Urteilsgründe am Schluss der Verhandlung verkündet. Damals wie heute waren auch schriftliche Urteilsgründe zu verfassen, mit Feststellungen zur Sache, ­Beweiswürdigung, rechtlicher Würdigung und Strafzumessungserwägungen. Über die Hauptverhandlung war ein Verhandlungsprotokoll zu führen. Mithin zumindest dem äußeren Anschein nach ein rechtsstaatliches Verfahren. Die Entscheidungen der Kriegsverfahren waren allerdings, im Gegensatz zu den Urteilen in Friedenszeiten, mit Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbar.

NJW: Wie veränderte sich die Kriegsjustiz zum Ende des Krieges hin?

Reitzig: Im Verlaufe des Krieges zeichnete sich oftmals ein härteres Vorgehen der Militärjustiz ab. Je deut­licher der Kriegsverlust zutage trat, desto drakonischer ­wurden teils die verhängten Strafen. Ein hochrangiger Wehr­machtgeneral formulierte seine Anforderungen diesbezüglich Anfang 1945: „Ich verlange darüber hinaus vom Gerichtsherrn und vom Richter, dass sie die gemeinsame Waffe richtig führen; in untätiger Hand bleibt sie wirkungslos. Je mehr Dauer und Härte des Krieges im einzelnen Menschen den inneren Schweine­hund durchbrechen lassen, umso einsatzfreudiger gehören Gerichtsherrn und Richter in die vorderste Front gegen das schleichende Gift der Auflockerung.“ Gegen Kriegsende gipfelte die Wehrmachtjustiz in der Auf­stellung von „Fliegenden Standgerichten“, denen nicht mehr zwingend ein Jurist als Wehrmachtrichter angehören musste und die von einem eigenen Exekutionskommando begleitet wurden.

NJW: Der Nürnberger Juristenprozess von 1947 richtete sich gegen (namhafte) NS-Juristen. Auch gegen ehemalige Wehrmachtjuristen?

Reitzig: Tatsächlich fanden sich im Nürnberger Juristenprozess keine ehemaligen Richter der Wehrmacht auf der Anklagebank wieder. Beispielsweise Rudolf Lehmann, höchster Militärjurist der NS-Zeit, wurde ­jedoch im Nürnberger Prozess Oberkommando der Wehrmacht (OKW-Prozess) von 1948 abgeurteilt.

NJW: Welche Rolle spielten diese in der Justiz der jungen Bundesrepublik?

Reitzig: Viele der ehemaligen Wehrmachtrichter konnten unbehelligt von Strafverfolgung in der Justiz weiterwirken und oftmals Karriere machen. Besondere ­Bekanntheit erfuhren sicherlich der ehemalige Marinerichter und spätere Ministerpräsident von Baden-Württemberg Hans Filbinger sowie das ihm zugeschriebene Diktum: „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.“ Dieser Ausspruch dürfte ein untrüg­liches Licht auf das Selbstverständnis von Wehrmachtjuristen werfen.

Dirk Reitzig war vor Jurastudium und Referendariat zunächst als Rechtspfleger tätig. Seine juristische Karriere begann er als Staatsanwalt, wechselte schließlich in den Richterdienst und war zuletzt Vorsitzender einer Großen Wirtschaftsstrafkammer. Der geschichtlich versierte Jurist ist derzeit vom Justiz­ministerium NRW als Leiter der Dokumentations- und Forschungsstelle „Justiz und Nationalsozialismus“ abgeordnet. In dieser Funktion ist er unter anderem zuständig für die Fortführung der Bände zur „Juris­tischen Zeitgeschichte“.

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Interview: Monika Spiekermann.