NJW-Editorial
Für Wissenschaft und Geschichte
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Das OLG Naumburg macht als erstes Gericht von der Möglichkeit des § 169 II GVG Gebrauch, ein Verfahren mit herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung auf Tonband aufzeichnen lassen. Tatsächlich verdient es der Strafprozess gegen den mutmaßlichen Attentäter auf die Synagoge in Halle, für die Forschung insgesamt archiviert zu werden.

7. Aug 2020

Unter dem etwas sperrigen Namen „Gesetz zur Erweiterung der Medienöffentlichkeit im Strafverfahren“ (EMöGG) wurde auch eine Neuerung für die Gerichtspraxis eingeführt, die mit Medien gewissermaßen gar nichts zu tun hat: Zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken kann das mit der Hauptsache befasste Gericht gem. § 169 II GVG ein Verfahren, das eine herausragende zeitgeschichtliche Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland hat, auf Tonband aufzeichnen lassen. Das OLG Naumburg hat von dieser seit April 2018 bestehenden gesetzlichen Möglichkeit nun erstmals Gebrauch gemacht. Der Strafprozess gegen den mutmaßlichen Attentäter auf die Synagoge in Halle wurde als zeithistorisch hoch relevant eingestuft, der es verdient, für die Forschung insgesamt archiviert zu werden. Durch die Neuregelung soll aber auf keinen Fall durch die Hintertür das eingeführt werden, was es in der deutschen StPO – sehr zum Erstaunen vieler ausländischer Kolleginnen und Kollegen – nicht gibt: ein Wortlautprotokoll. Die Aufzeichnung wird deshalb kein Teil der Gerichtsakte. Nach Ende des Prozesses wird es dem zuständigen Landes- oder Bundesarchiv angeboten. Sollte es dort nicht als archivwürdig angesehen werden, muss die Aufnahme gelöscht werden. Befürchtete Auswirkungen der Aufnahmen auf das Revisionsverfahren sind damit ausgeschlossen.

Der Gesetzgeber war bei dieser Neuerung inspiriert von den Tondokumenten aus dem ersten Auschwitzprozess vor dem Landgericht Frankfurt a. M. Das dortige Schwurgericht hatte Anfang der 1960er Jahre nicht im Sinn, den Prozess für die wissenschaftliche Forschung zu erhalten. Die Aufzeichnung wurde vielmehr angefertigt, um das Gedächtnis der Kammer zu unterstützen. Es handelt sich dabei um beeindruckende Dokumente, welche das Fritz-Bauer-Institut in einer Online-Datenbank für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Der neue § 169 II GVG hingegen hat einen anderen Zweck: wissenschaftliche Forschung.

Darunter scheint sich der Gesetzgeber historische Forschung vorzustellen, aber warum sollte sich nicht auch die Prozessrechtswissenschaft daran abarbeiten können? Bislang ist nicht zu beobachten, dass die Fülle an Dokumenten aus großen Prozessen, auch aus den internationalen Strafprozessen in Den Haag, systematisch analysiert würde. Das gilt auch für die Nürnberger Prozesse. Analog ist das eben sehr mühsam. Digitale Analysetools, gerade auch KI-gestützte, könnten hier weiterhelfen. Der Gesetzgeber rechnet nur alle fünf Jahre mit einem solch bedeutsamen Prozess in Deutschland. Die Gerichte können hier ruhig etwas mutiger werden. Vielleicht denken wir dann auch noch einmal darüber nach, ob das, was für die historische Wahrheitsfindung billig ist, nicht für die juristische recht sein sollte? •

Prof. Dr. Christoph Safferling ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.