NJW-Editorial
Für eine starke Rechtsgemeinschaft
Foto Matthias Ruffert

Auf den ersten Blick füllt sich die Verlustliste. Ein mitgliedstaatliches Verfassungsgericht erklärt vom EuGH explizit gebilligtes Unionsrecht für unanwendbar. Nicht irgendeines – das deutsche Bundesverfassungsgericht mit seiner weltweiten Anerkennung bescheinigt dem EuGH, „methodisch nicht vertretbar“ bzw. „nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich“ entschieden zu haben.

13. Mai 2020

Ist das nicht die Einladung an solche mitgliedstaatlichen Gerichte, deren rechtsstaatliches Fundament langsam, aber sicher von rechtsnationalen Regierungen abgebaut wird, sich dem EuGH ebenfalls zu widersetzen? Ist es nicht ein Fehler, den Brüdern im Geiste dieser Regierungen mit einem verfassungsbeschwerdebewehrten „Anspruch auf Demokratie“ einen Triumph zu verschaffen – den ewig gleichen Dauerklägern, die nun in den Medien erneut ihre Litanei von der Enteignung der deutschen Sparer zugunsten der faulen Südländer herunterschwadronieren? Alles in allem: eine Niederlage für die Rechtsgemeinschaft?

Wie schön wäre es, wie komfortabel vor allem für den Zweiten Senat, würde der erste Blick trügen und könnte man diese Fragen klar verneinen. Man kann es aber nicht, ebenso wenig wie man sie klar bejahen müsste. Weder sollte sich das höchste deutsche Gericht vom erwarteten Missbrauch seiner Position beeinflussen lassen, noch sollte man übersehen, dass Zentralbanken seit Langem weltweit die Zinsen abschaffen und so dafür sorgen, dass es für Sparer und Mieter finster aussieht.

Ein zweiter Blick tut daher Not. Die EZB ist nicht demokratisch, sondern über ihr geldpolitisches Mandat legitimiert. Betreibt sie eigenständige Wirtschaftspolitik, fehlt es an (demokratischer) Legitimation. Dies muss durch den EuGH kontrolliert werden, aber er hat sich darin vollkommen zurückgenommen und das Vorbringen der Notenbank im Tatsächlichen nicht näher hinterfragt. Das reicht nicht hin, um Vertrauen in eine kontrollierte Mandatsausübung zu erzeugen – noch dazu in Erinnerung an den „Sündenfall“ von 2011, als die EZB die Regierung Berlusconi durch einen heimlich konditionierten Staatsanleihekauf stützte. Hier identifiziert das BVerfG den zentralen Schwachpunkt. Vier Jahre lang hat die Zentralbank durch gigantische Anleihekaufprogramme (über zwei Billionen Euro) die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens in Europa geformt – ohne äußeren Anstoß durch Pandemie und Lockdown. Die rechtswissenschaftliche Literatur quillt nicht über von Analysen, die der EZB die Beachtung des Verbots der monetären Staatsfinanzierung bescheinigen. Die Anforderungen des BVerfG können der Grundstein sein für eine juristisch resilientere Wahrnehmung ihres Mandats. Alles in allem also eher ein Gewinn für die Rechtsgemeinschaft. •

Der Autor lehrt Öffentliches Recht und Europarecht an der Humboldt-Universität zu Berlin.