Anmerkung von
Rechtsanwalt beim BGH Dr. Guido Toussaint, Toussaint & Schmitt, Karlsruhe
Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 10/2023 vom 19.05.2023
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Sachverhalt
In einem Verfahren über die Abänderung eines Versorgungsausgleichs hat das AG – Familiengericht – auf Antrag des früheren Ehemanns ein Jahre vorher ergangenes Urteil dahin abgeändert, dass ein Versorgungsausgleich (zugunsten der früheren Ehefrau) nicht stattfindet. Der Beschluss enthält die Rechtsbehelfsbelehrung: „Gegen diese Entscheidung kann innerhalb von einem Monat Beschwerde beim AG B., [Anschrift], eingelegt werden“. Der an dem Verfahren nicht beteiligte Witwer der wieder verheirateten Ehefrau, der aus dem Versorgungsanrecht eine Witwerrente bezieht, erfuhr hiervon erst ein knappes Jahr später infolge der Neufestsetzung seiner Rente und im Rahmen einer durch einen Rechtsanwalt vorgenommenen Einsicht in die Verwaltungsakten des Rentenversicherungsträgers. Weitere drei Monate später hat er Beschwerde gegen die familiengerichtliche Entscheidung über die Abänderung des Versorgungsausgleichs eingelegt. Das OLG hat diese als unzulässig verworfen und die Rechtsbeschwerde zugelassen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Frist des § 63 Abs. 1, 3 S. 1 FamFG sei nicht gewahrt gewesen, weil der Beschwerdeführer die Beschwerde nicht binnen Monatsfrist ab tatsächlicher Kenntnisnahme von dem angefochtenen Beschluss eingelegt habe, und ihm sei auch nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, da er die Frist zur Einlegung der Beschwerde nicht ohne ihm zuzurechnendes Verschulden seines Verfahrensbevollmächtigten versäumt habe; dieser sei gehalten gewesen, für seinen Mandanten den sichersten Weg zu wählen und die Beschwerde binnen eines Monats nach Kenntniserlangung von dem Beschluss einzulegen.
Entscheidung: Ein etwaige Fristversäumung des Beschwerdeführers war jedenfalls unverschuldet
Auf die Rechtsbeschwerde des Witwers hat der BGH den Beschluss des OLG aufgehoben, ihm gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Beschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt und die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Die Ausführungen des OLG hielten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Allerdings habe das OLG zutreffend ausgeführt, dass die Frage, welche Rechtsmittelfrist zu laufen beginne, nachdem ein Beteiligter ohne Bekanntgabewillen des Gerichts von einer rechtsmittelfähigen Entscheidung Kenntnis erlangt hat, bisher nicht höchstrichterlich entschieden sei (vgl. BGHZ 230, 147 = NJW-RR 2022, 55 Rn. 38). Die Frage könne aber auch im vorliegenden Fall offenbleiben. Denn die Wahrung einer Frist müsse nicht abschließend geklärt werden, wenn jedenfalls die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorlägen. So liege der Fall hier, da der Beschwerdeführer eine etwa vor dem Eingang seines Rechtsmittels abgelaufene Beschwerdefrist jedenfalls nicht verschuldet versäumt habe (§ 17 Abs. 1 FamFG). Bei einem rechtsunkundigen Beteiligten könne ein Verschulden insbesondere dann entfallen, wenn ihm keine zutreffende Rechtsbehelfsbelehrung erteilt worden sei; nach § 17 Abs. 2 FamFG werde deswegen ein Fehlen des Verschuldens vermutet, wenn eine Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder fehlerhaft sei. Hier sei die Rechtsbehelfsbelehrung fehlerhaft gewesen, weil sie schon nicht die nach § 39 S. 1 FamFG erforderlichen Angaben über die bei der Einlegung des Rechtsbehelfs einzuhaltende Frist enthalte; sie lasse nicht ausreichend erkennen, wann die Beschwerdefrist beginne. Allerdings sei, wenn der Beteiligte in der Sache anwaltlich vertreten sei, der Rechtsirrtum regelmäßig verschuldet und verhindere eine Wiedereinsetzung. Im vorliegenden Fall scheidet eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand jedoch nicht aus. Denn der Beschwerdeführer sei in der Vorinstanz nicht beteiligt worden und nicht anwaltlich vertreten gewesen. Zwar habe ein Rechtsanwalt für ihn die Verwaltungsakte des Versorgungsträgers und die Gerichtsakte des Abänderungsverfahrens eingesehen und dabei Kenntnis von dem ergangenen Beschluss erlangt. Diese Einsichtnahmen seien aber nicht im Rahmen einer Rechtsvertretung im familiengerichtlichen Abänderungsverfahren erfolgt, sondern ausdrücklich im Rahmen einer Rechtsvertretung im sozialrechtlichen Widerspruchsverfahren gegen den vom Versorgungsträger abgeänderten Rentenbescheid. Die die Vermutungswirkung des § 17 Abs. 2 FamFG widerlegende Zurechnung anwaltlicher Kenntnisse über einen zulässigen Rechtsbehelf setze aber ein darauf bezogenes Mandatsverhältnis voraus. Die Ausschlussfrist des § 18 Abs. 4 FamFG, wonach nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist an gerechnet, Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt oder ohne Antrag bewilligt werden könne, sei hier nicht überschritten, da die Frist zur Einlegung der Beschwerde jedenfalls nicht vor der Kenntnisnahme von dem Beschluss begann.
Die Wiedereinsetzung könne auch ohne ausdrücklichen Antrag gewährt werden, da die versäumte Rechtshandlung innerhalb der für eine Wiedereinsetzung bestehenden Antragsfrist nachgeholt worden sei (§ 18 Abs. 3 S. 2 FamFG).
Praxishinweis
Im Verfahren nach der ZPO oder dem FamFG hat das Fehlen oder die Unrichtigkeit einer (nach § 232 ZPO, § 39 FamFG) vorgeschriebenen Rechtsbehelfsbelehrung – anders als etwa nach § 9 Abs. 5 S. 3 ArbGG, § 58 Abs. 2 S. 1 VwGO, § 66 Abs. 1 SGG, § 55 Abs. 1 FGO – keine Auswirkung auf den Lauf von Anfechtungsfristen, begründet aber die gesetzliche Vermutung des fehlenden Verschuldens an einer Fristversäumung als Voraussetzung für eine Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Frist (sog. Wiedereinsetzungslösung, § 233 S. 2 ZPO, § 17 Abs. 2 FamFG, ebenso etwa § 68 Abs. 2 S. 2 GKG, § 33 Abs. 5 S. 2 RVG). Wiedereinsetzung kann allerdings nur gewährt werden, wenn die Fristversäumung allein auf dem Belehrungsmangel beruht. Ist der Beteiligte anwaltlich vertreten, fehlt es nach der Rspr. des BGH idR an einem solchen ursächlichen Zusammenhang, weil der Beteiligte für die zutreffende Information über seine Rechtsmittelmöglichkeiten keiner Unterstützung durch eine Rechtsbehelfsbelehrung bedarf (vgl. nur BGH NJW-RR 2023, 427 Rn. 22 mwN mAnm Toussaint FD-ZVR 2023, 455880; die hier besprochene Entscheidung beruht auf der besonderen Situation, dass der Beteiligte zwar einen Rechtsanwalt beauftragt hatte, aber in anderer Sache). Es ist dann Sache des Rechtsanwalts, die Formalien der Rechtsbehelfsbelehrung zu prüfen; unterlaufen ihm hierbei vorwerfbare Fehler, ist dies nach § 85 Abs. 2 ZPO seinem Auftraggeber zuzurechnen (vgl. hierzu auch Brand NJW 2022, 2150). Nach der Rspr. darf zwar im Grundsatz auch ein Rechtsanwalt auf die Richtigkeit einer Rechtsbehelfsbelehrung vertrauen, doch gilt dies nicht uneingeschränkt, weil von ihm erwartet wird, dass er die Grundzüge des Verfahrensrechts und das Rechtsmittelsystem in der jeweiligen Verfahrensart kennt. Ein Rechtsanwalt kann das Vertrauen in die Richtigkeit einer Rechtsbehelfsbelehrung daher nur in solchen Fällen in Anspruch nehmen, in denen die inhaltlich fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung zu einem unvermeidbaren, zumindest aber nachvollziehbaren und daher verständlichen Rechtsirrtum des Rechtsanwalts geführt hat, mithin dann nicht, wenn die Rechtsbehelfsbelehrung offenkundig falsch ist und deshalb nach dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Kenntnisstand nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermag (vgl. wiederum nur BGH NJW-RR 2023, 427 Rn. 26 mwN). Daher gilt, dass der Rechtsanwalt Rechtsbehelfsbelehrungen nicht blind vertrauen darf (bedenklich erscheint daher die in der Praxis verbreitete Fristennotierung durch das Büropersonal allein aufgrund einer Rechtsbehelfsbelehrung).
BGH, Beschluss vom 01.03.2023 - XII ZB 18/22 (OLG Köln), BeckRS 2023, 9665