Urteilsanalyse

Fris­ten­kon­trol­le in «Legal Tech»-Kanz­lei
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Der Rechts­an­walt, der im Zu­sam­men­hang mit einer frist­ge­bun­de­nen Ver­fah­rens­hand­lung – hier der Ein­le­gung der Be­ru­fung – mit einer Sache be­fasst wird, hat dies zum An­lass zu neh­men, die Frist­ver­mer­ke in der Hand­ak­te zu über­prü­fen. Auf wel­che Weise (her­kömm­lich oder elek­tro­nisch) die Hand­ak­te ge­führt wird, ist nach einem Be­schluss des BGH vom 23.06.2020 hier­für ohne Be­lang.

19. Aug 2020

An­mer­kung von
Rechts­an­walt beim BGH Dr. Guido Tous­saint, Tous­saint & Schmitt, Karls­ru­he

Aus beck-fach­dienst Zi­vil­ver­fah­rens­recht 14/2020 vom 10.07.2020

Diese Ur­teils­be­spre­chung ist Teil des zwei­wö­chent­lich er­schei­nen­den Fach­diens­tes Zi­vil­ver­fah­rens­recht. Neben wei­te­ren aus­führ­li­chen Be­spre­chun­gen der ent­schei­den­den ak­tu­el­len Ur­tei­le im Zi­vil­ver­fah­rens­recht be­inhal­tet er eine er­gän­zen­de Leit­satz­über­sicht. Zudem in­for­miert er Sie in einem Nach­rich­ten­block über die wich­ti­gen Ent­wick­lun­gen in Ge­setz­ge­bung und Pra­xis des Zi­vil­ver­fah­rens­rechts. Wei­te­re In­for­ma­tio­nen und eine Schnell­be­stell­mög­lich­keit fin­den Sie unter www.​beck-​online.​de


Sach­ver­halt

Der Klä­ger macht gegen die Be­klag­ten An­sprü­che aus einem Pkw-Kauf­ver­trag im Rah­men des sog. „Die­sel-Skan­dals“ gel­tend. Das LG hat die Klage ab­ge­wie­sen. Gegen die­ses Ur­teil legte der Klä­ger über seine für das Be­ru­fungs­ver­fah­ren neu man­da­tier­ten Pro­zess­be­voll­mäch­tig­ten, An­wäl­tin einer auf Mas­sen­ver­fah­ren spe­zia­li­sier­ten „Legal Tech“-Kanz­lei, frist­ge­recht Be­ru­fung ein. Nach Ab­lauf der Be­ru­fungs­be­grün­dungs­frist wies der Vor­sit­zen­de des Be­ru­fungs­ge­richts den Klä­ger dar­auf hin, dass seine Be­ru­fung bis­her nicht be­grün­det wor­den, mit­hin als un­zu­läs­sig zu ver­wer­fen sei. Dar­auf­hin hat der Klä­ger seine Be­ru­fung be­grün­det und Wie­der­ein­set­zung in die ver­säum­te Be­ru­fungs­be­grün­dungs­frist be­an­tragt. Zur Be­grün­dung hat er aus­ge­führt, die bis dahin stets sorg­fäl­tig ar­bei­ten­de Bü­ro­an­ge­stell­te sei­ner Pro­zess­be­voll­mäch­tig­ten habe den Frist­ab­lauf zur Be­ru­fungs­be­grün­dung in der Akte bzw. dem Fris­ten­ka­len­der ver­se­hent­lich auf den dem Tag des Frist­ab­laufs entspr. Tag des Fol­ge­mo­nats ein­ge­tra­gen. Die Ak­ten­be­ar­bei­tung und auch die Fris­t­ein­tra­gung er­fol­ge dort zu­nächst auf elek­tro­ni­schem Weg. Die je­wei­li­gen Schrift­stü­cke wür­den zur elek­tro­ni­schen Akte hoch­ge­la­den, die Ein­tra­gung von Vor­frist und Frist er­folg­ten in der hier­für zur Ver­fü­gung ste­hen­den Funk­ti­on der ver­wen­de­ten Soft­ware. Die An­ge­stell­te habe den Feh­ler auch nicht auf dem er­folg­ten Kon­troll­aus­druck be­merkt. Die je­wei­li­ge Fris­ten­lis­te werde min­des­tens ein­mal wö­chent­lich in Pa­pier­form aus­ge­druckt und dem Rechts­an­walt vor­ge­legt. Da die Be­ru­fungs­be­grün­dungs­frist für die vor­lie­gen­de Sache falsch ein­ge­tra­gen wor­den sei, sei sie auch nicht zum ei­gent­li­chen Frist­ab­lauf auf dem Wo­chen­aus­druck er­schie­nen. Die Bü­ro­an­ge­stell­te hat die­sen Vor­trag ei­des­statt­lich ver­si­chert.

Das Be­ru­fungs­ge­richt hat den An­trag auf Wie­der­ein­set­zung zu­rück­ge­wie­sen und die Be­ru­fung als un­zu­läs­sig ver­wor­fen. Zur Be­grün­dung hat es aus­ge­führt, dass ein Rechts­an­walt zwar ein­fa­che Tä­tig­kei­ten wie die No­tie­rung, Über­wa­chung und Ein­hal­tung von Fris­ten sei­nem sorg­fäl­tig aus­ge­wähl­ten, aus­rei­chend ge­schul­ten und zu­ver­läs­si­gen Per­so­nal über­tra­gen dürfe. Er müsse den Ab­lauf von Rechts­mit­tel­be­grün­dungs­fris­ten aber immer dann ei­gen­ver­ant­wort­lich prü­fen, wenn ihm die Akten im Zu­sam­men­hang mit einer frist­ge­bun­de­nen Pro­zess­hand­lung, ins­be­son­de­re zu deren Be­ar­bei­tung, vor­ge­legt wür­den. Hier habe die Pro­zess­be­voll­mäch­tig­te spä­tes­tens bei Vor­la­ge der Sache zur Fer­ti­gung der Be­ru­fungs­schrift über­prü­fen müs­sen, ob die Frist für die Be­ru­fungs­be­grün­dung rich­tig no­tiert wor­den war.

Der Klä­ger hat hier­ge­gen Rechts­be­schwer­de ein­ge­legt und sei­nen Vor­trag unter Vor­la­ge einer ei­des­statt­li­chen Ver­si­che­rung sei­ner zweit­in­stanz­lich tä­ti­gen Pro­zess­be­voll­mäch­tig­ten da­hin­ge­hend er­gänzt, dass diese die Ein­tra­gung der Fris­ten im Wege einer Ein­zel­an­wei­sung an­ge­ord­net habe. Eine Über­prü­fung der wei­te­ren Fris­ten sei der Pro­zess­be­voll­mäch­tig­ten auf­grund ihrer auf Mas­sen­ver­fah­ren spe­zia­li­sier­ten So­zie­tät und der dar­auf aus­ge­rich­te­ten elek­tro­ni­schen Ak­ten­füh­rung („Legal Tech“) nicht mög­lich ge­we­sen. Der Pro­zess­be­voll­mäch­tig­ten sei vor Fer­ti­gung der Be­ru­fungs­be­grün­dung zu kei­nem Zeit­punkt eine Hand­ak­te mit den ent­spre­chen­den Fris­t­ein­tra­gun­gen vor­ge­legt wor­den. Die Frist­be­ar­bei­tung und -kon­trol­le sei den Mit­ar­bei­tern über­tra­gen, eine ei­gen­stän­di­ge Über­prü­fung durch den An­walt weder er­for­der­lich noch mög­lich. Der durch die Über­tra­gung der Frist­be­rech­nung auf die Kanz­le­i­mit­ar­bei­ter und die elek­tro­ni­sche Ak­ten­be­ar­bei­tung er­ziel­te Ent­las­tungs­ef­fekt ent­fie­le, wenn der Rechts­an­walt ge­hal­ten wäre, ent­we­der die elek­tro­ni­sche Hand­ak­te selbst auf­zu­ru­fen oder sich Aus­dru­cke dar­aus vor­le­gen zu las­sen. Auch mit der Über­nah­me einer Sache in zwei­ter In­stanz gehe nicht immer eine ei­ge­ne Ver­pflich­tung des Rechts­an­walts zur Über­prü­fung der ein­ge­tra­ge­nen Fris­ten ein­her.

Ent­schei­dung: Vor­la­ge der (gfs. Elek­tro­ni­schen) Hand­ak­te zur Prü­fung der Fris­ten­ein­tra­gung ist auch (und ge­ra­de) in einer „Legal Tech“-Kanz­lei in Mas­sen­ver­fah­ren er­for­der­lich

Der BGH hat die (ohne wei­te­res statt­haf­te, §§ 522 I 4, 574 I 1 Nr. 1, 238 II 1 ZPO) Rechts­be­schwer­de des Klä­gers als un­zu­läs­sig ver­wor­fen, weil eine Ent­schei­dung des Rechts­be­schwer­de­ge­richts weder wegen grund­sätz­li­cher Be­deu­tung der Rechts­sa­che (§ 574 II Nr. 1 ZPO) noch zur Si­che­rung einer ein­heit­li­chen Recht­spre­chung (§ 574 II Nr. 2 ZPO) er­for­der­lich sei. Die ma­ß­geb­li­chen Rechts­fra­gen seien in der höchst­rich­ter­li­chen Recht­spre­chung ge­klärt und der an­ge­foch­te­ne Be­schluss ver­let­ze nicht den An­spruch des Klä­gers auf Ge­wäh­rung wir­kungs­vol­len Rechts­schut­zes (Art. 2 I GG iVm dem Rechts­staats­prin­zip). Denn die Zu­rück­wei­sung des An­trags auf Wie­der­ein­set­zung in den vo­ri­gen Stand gegen die Ver­säu­mung der Be­ru­fungs­be­grün­dungs­frist sei auf der Grund­la­ge der Rspr. des BGH nicht zu be­an­stan­den. Der Klä­ger habe nicht glaub­haft ge­macht, dass er ohne ein ihm nach § 85 II ZPO zu­re­chen­ba­res Ver­schul­den sei­ner Pro­zess­be­voll­mäch­tig­ten daran ge­hin­dert ge­we­sen wäre, die Be­ru­fungs­be­grün­dungs­frist ein­zu­hal­ten. Der im Rechts­be­schwer­de­ver­fah­ren neu ge­hal­te­ne Vor­trag des Klä­gers sei pro­zes­su­al un­be­acht­lich (§ 236 II 1 iVm § 234 I 2 ZPO; es habe ins­bes. auch kei­nes auf Klar­stel­lung oder Er­gän­zung des bis­he­ri­gen Vor­trags ge­rich­te­ten Hin­wei­ses des Be­ru­fungs­ge­richts be­durft), führe aber auch nicht zu einem an­de­ren Er­geb­nis. Viel­mehr ge­nü­ge die Bü­ro­or­ga­ni­sa­ti­on in der Kanz­lei der zweit­in­stanz­li­chen Pro­zess­be­voll­mäch­tig­ten auch nach die­sem Vor­trag den An­for­de­run­gen der Rspr. weder grund­sätz­lich noch habe sie ihr im kon­kre­ten Fall ge­nügt. Nach st. Rspr. habe der Rechts­an­walt, der im Zu­sam­men­hang mit einer frist­ge­bun­de­nen Ver­fah­rens­hand­lung – hier der Ein­le­gung der Be­ru­fung – mit einer Sache be­fasst werde, dies zum An­lass zu neh­men, die Frist­ver­mer­ke in der Hand­ak­te zu über­prü­fen; auf wel­che Weise (her­kömm­lich oder elek­tro­nisch) die Hand­ak­te ge­führt werde, sei hier­für ohne Be­lang. Nach dem Vor­trag der Rechts­be­schwer­de lasse sich aber die Pro­zess­be­voll­mäch­tig­te des Klä­gers vor Fer­ti­gung der Be­ru­fungs­be­grün­dung grund­sätz­lich nicht die Hand­ak­te vor­le­gen und sehe auch davon ab, diese zur Fris­ten­kon­trol­le elek­tro­nisch auf­zu­ru­fen; so habe sie es auch im Streit­fall ge­hal­ten. Die damit er­hoff­te „Ent­las­tung“ habe die Pro­zess­be­voll­mäch­tig­te mit dem sorg­falts­wid­ri­gen Ver­zicht auf eine Ge­gen­kon­trol­le der Fris­ten­be­ar­bei­tung ihrer Be­schäf­tig­ten und letzt­lich auf Kos­ten des Klä­gers er­kauft. Denn die bloße Vor­la­ge des „Wo­chen­aus­drucks“, aus dem die in der an­ste­hen­den Woche ver­meint­lich fäl­lig wer­den­den Fris­ten und Vor­fris­ten er­sicht­lich seien, sei nicht ge­eig­net, eine ein­mal falsch be­rech­ne­te oder auch nur feh­ler­haft ein­ge­tra­ge­ne Frist recht­zei­tig als sol­che zu iden­ti­fi­zie­ren. Der Um­stand, dass es sich nach dem Vor­trag der Rechts­be­schwer­de um ein Mas­sen­ver­fah­ren han­de­le, än­de­re nichts an den den Rechts­an­walt tref­fen­den Or­ga­ni­sa­ti­ons­ver­pflich­tun­gen. Denn ge­ra­de in Mas­sen­ver­fah­ren tref­fe den Rechts­an­walt – wegen der ge­fahr­ge­neig­ten rou­ti­ne­ar­ti­gen Tä­tig­keit ge­ra­de für seine Be­schäf­tig­ten – eine be­son­de­re Or­ga­ni­sa­ti­ons­pflicht, die das Auf­fin­den von Feh­lern er­mög­li­che.

Pra­xis­hin­weis

Nach st. Rspr. kann der Rechts­an­walt zwar die Be­rech­nung und No­tie­rung von ein­fa­chen, re­gel­mä­ßig in der Kanz­lei an­fal­len­den Fris­ten sei­nem Bü­ro­per­so­nal über­las­sen, so­weit die­ses gut aus­ge­bil­det, als zu­ver­läs­sig er­probt und sorg­fäl­tig über­wacht ist. Er hat dann aber durch ge­eig­ne­te or­ga­ni­sa­to­ri­sche Maß­nah­men si­cher­zu­stel­len, dass die Fris­ten zu­ver­läs­sig fest­ge­hal­ten und kon­trol­liert wer­den. Die her­für we­sent­li­chen Maß­nah­men sind neben der Füh­rung eines Fris­ten­ka­len­ders (1.) eine allg. An­wei­sung, dass in der Hand­ak­te nicht nur die Rechts­mit­tel­fris­ten zu­sätz­lich no­tiert, son­dern auch ihre vor­an­ge­gan­ge­ne No­tie­rung im Fris­ten­ka­len­der durch einen Er­le­di­gungs­ver­merk (oder auf sons­ti­ge Weise) „quit­tiert“ wer­den, und (2.) eine (auf die Ver­mer­ke in der Hand­ak­te be­schränk­te) ei­gen­ver­ant­wort­li­che Prü­fung der Ein­hal­tung der An­wei­sun­gen zur Be­rech­nung und No­tie­rung lau­fen­der Rechts­mit­tel­fris­ten ein­schlie­ß­lich deren Ein­tra­gung in den Fris­ten­ka­len­der durch den Rechts­an­walt, so­bald ihm die Sache im Zu­sam­men­hang mit einer frist­ge­bun­de­nen Ver­fah­rens­hand­lung zur Be­ar­bei­tung vor­ge­legt wird. Eine elek­tro­ni­sche Ka­len­der- und Ak­ten­füh­rung steht dem Rechts­an­walt frei, darf aber ge­gen­über her­kömm­li­chen Fris­ten­ka­len­der und Pa­pier­ak­ten keine ge­rin­ge­re Über­prü­fungs­si­cher­heit bie­ten. Wie die Ent­schei­dung zeigt, gilt dies ohne wei­te­res auch bei der weit­ge­hend au­to­ma­ti­sier­ten Ab­wick­lung von Mas­sen­ver­fah­ren, die wie­der­um ei­ge­ne Ge­fah­ren mit sich bringt.

BGH, Be­schluss vom 23.06.2020 - VI ZB 63/19, BeckRS 2020, 17044