„In manchen Fällen ist es schwierig, zum eigentlichen Kern der Sache vorzudringen. Aber in diesem Fall ist es überhaupt nicht schwer.“ Mit diesen Worten beginnt das Gericht seine Entscheidung vom 17.4.2025 (No. 25-1404, abrufbar unter https://www.ca4.uscourts.gov/docs/pdfs/251404.Order.pdf), mit der es ein außerordentliches Rechtsmittel der US-Regierung zurückwies. Diese wollte erreichen, dass sie keine aktiven Schritte zur Rückführung von Abrego Garcia unternehmen muss, der trotz eines bestehenden Abschiebungsverbots („withholding of removal order“) nach El Salvador deportiert wurde, wo er nun inhaftiert ist. Die Regierung behauptet, dass Abrego Garcia ein Terrorist und Mitglied einer gefährlichen Gang sei. Das Gericht entscheidet das nicht in der Sache („vielleicht, vielleicht aber auch nicht“), betont aber, dass er „ungeachtet dessen ein Recht auf ein ordnungsgemäßes rechtsstaatliches Verfahren“ habe.
Missachtung der Gerichte ist verboten
Das Gericht unter Vorsitz von Richter J. Harvie Wilkinson III, der 1984 von Präsident Ronald Reagan nominiert und vom Senat bestätigt wurde, kritisiert scharf das Vorgehen der Trump-Regierung: „Sie behauptet ein Recht, Bewohner dieses Landes in ausländischen Gefängnissen zu verstecken, ohne den Anschein eines ordnungsgemäßen rechtsstaatlichen Verfahrens, das die Grundlage unserer verfassungsmäßigen Ordnung ist.“ Es fährt fort: „Dies sollte nicht nur für Richter erschütternd sein, sondern auch für das intuitive Freiheitsempfinden, das Amerikaner, die weit von Gerichtssälen entfernt sind, noch wertschätzen.“ Die Regierung sei offensichtlich frustriert und unzufrieden mit den Entscheidungen des Gerichts. Diese seien auch nicht über Kritik erhaben. Aber: „Aktive Behinderung oder Missachtung [der Gerichte] ist verboten.“ Die Entscheidung schließt mit der Feststellung: „Nun kommen die Gewalten einem unwiderruflichen Gegeneinanderknirschen („too close to grinding“) in einem Konflikt zu nahe, der beide zu schwächen droht. Dies ist für alle Beteiligten ein ‚Verlustgeschäft‘ (‚losing proposition‘).“ In einem eindringlichen Appell sieht das Gericht aber auch eine Chance für die Exekutive, den Rechtsstaat als wesentlichen Bestandteil des amerikanischen Ethos zu bekräftigen. (Übersetzungen aus dem amerikanischen Rechtsenglisch vom Verfasser.)
Die Courts of Appeals sind die Berufungsgerichte der US-Bundesjustiz. Sie sind nach dem US Supreme Court die einflussreichsten Gerichte der USA, weil sie in den meisten Fällen die letzte Instanz darstellen. Sie prägen also das als Präjudiz verbindlich geltende US Bundes-Richterrecht. Wenn so ein Gericht in einer Entscheidung zweimal der Regierung „lawlessness“ (Gesetzlosigkeit) unterstellt und – vertreten durch einen durchaus konservativen Richter – einen derartigen Appell an diese und an die Rechtsgemeinschaft richtet, kann man von einer Verfassungskrise sprechen. Alle Juristinnen und Juristen auf der Welt sollten diese Entscheidung genau lesen; denn die USA sind, bei aller Kritik, einer der ältesten Verfassungsstaaten der Welt. Wenn dort ein so schneller existenzieller Verlust an Verfassungstreue auftreten kann, dann auch in jedem anderen Verfassungsstaat. In Deutschland kam es ebenfalls schon vor, dass Menschen unter Missachtung entgegenstehender Gerichtsentscheidungen durch die Exekutive abgeschoben wurden (vgl. OVG Bautzen 29.7.2024 – 3 B 113/24, BeckRS 2024, 20078).
Das Gericht schließt mit Zweckoptimismus: „Es ist, wie wir festgestellt haben, allzu gut möglich, in diesem Fall eine beginnende Krise zu sehen, aber er könnte auch eine gute Gelegenheit darstellen.“ Es klammere sich an die Hoffnung, dass es nicht naiv sei, noch zu glauben, dass seine „guten Brüder“ („good Brethren“, eine bewusst altertümliche Formulierung auf Englisch, die wohl an einen alten Anstand gemahnen soll) in der Exekutive die Rechtsstaatlichkeit als wesentlich für das amerikanische Ethos betrachten. Die Notwendigkeit von Checks and Balances, gegenseitiger Kontrolle der Gewalten, bleibt zeitlos relevant. Ob diese sich daran halten, muss immer wieder aufs Neue getestet werden. Das sollte ein Merkposten im Rahmen der derzeitigen Diskussion in Deutschland über eine Staatsreform sein: Allein durch die Änderung von Verfassungstexten wird man keine Verbesserung der Verfassungstreue und des Umgangs der Staatsgewalten miteinander erreichen. Vielmehr müssen alle Beteiligten es von selber wollen, einander Interorganrespekt zu bezeugen.
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