Bestehen aus Sicht des Anklägers hinreichende Verdachtsgründe dafür, dass eine der vier Völkerstraftaten, die der Gerichtsbarkeit des IStGH unterliegen, begangen wurden, leitet er Ermittlungen ein, in deren Rahmen auf seinen Antrag hin eine Vorverfahrenskammer einen Haftbefehl erlassen kann (Art. 53, 58 IStGH-Statut). Dafür reicht ein begründeter Verdacht der Tatbegehung aus; es muss, anders als im deutschen Strafprozess, kein dringender Tatverdacht bestehen. Die Festnahme muss wegen bestimmter Haftgründe notwendig erscheinen: Sicherstellung des Erscheinens in der Verhandlung (der IStGH kennt keine Verurteilung von Abwesenden), Verdunkelungsgefahr oder Wiederholungsgefahr.
Nach den Haftbefehlen gegen den einstigen sudanesischen Staatspräsidenten Al-Bashir sowie den russischen Präsidenten Putin ist der beantragte Haftbefehl gegen Netanjahu, soweit ersichtlich, der dritte gegen einen amtierenden Regierungschef. Auf ihre Immunität können sie sich weder gegenüber dem IStGH noch gegenüber den Mitgliedstaaten im Rahmen der internationalen Rechtshilfe berufen (Bock, NJW-aktuell H. 14/ 2023, 15). Dass das Rom-Statut überhaupt auf Völkerstraftaten in Palästina anwendbar ist, beruht darauf, dass es mehrfach die Jurisdiktion des IStGH für das Gebiet anerkannt hat, was von der 1. Vorverfahrenskammer in einem nicht einstimmig ergangenen Beschluss bestätigt wurde (ICC-01/18). Khan hat seine Anträge am 20.5. der Öffentlichkeit über den Fernsehsender CNN in einem Exklusiv-Interview vorgestellt. Die Anklagebehörde verfolgt allgemein das Ziel, die Zahl der seit 2004 pro Jahr durchschnittlich ergangenen drei Haftbefehle auf mindestens zehn zu erhöhen (vgl. Office of the Prosecutor’s Stratetic Framework 2023–2025, Annex 1). Allen fünf Tatverdächtigen werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vorgeworfen. Auf den Verdacht eines Genozids wurden die Anträge nicht gestützt, anders etwa als bei Al-Bashir wegen der Verfolgung ethnischer Gruppen in Darfur (ICC-02/05-01/09).
Die Unterzeichnerstaaten des Statuts sind zu einer uneingeschränkten Zusammenarbeit mit dem IStGH verpflichtet und haben seinem Ersuchen um eine Überstellung von Personen unter Beachtung des nationalen Verfahrensrechts Folge zu leisten (Art. 86, 89 IStGH-Statut). Vielfach wird daraus der Schluss gezogen, dass allgemeinpolitische Interessen „grundsätzlich nicht die Ablehnung eines Ersuchens“ motivieren dürfen, da der Gerichtshof eine „überstaatliche Strafgerechtigkeit“ (Keller in Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2. Aufl. 2020, 5. Hauptteil, Teil 3, Rn. 3) realisiere. Auch Khan hat die Mitgliedstaaten ermahnt, eine etwaige positive Entscheidung der Vorverfahrenskammer mit der gleichen Ernsthaftigkeit wie in anderen Fällen zu beachten.
Die internationale Rechtshilfe in Strafsachen ist durch ein zweistufiges Verfahren aus gerichtlicher Zulässigkeitsprüfung und ministerieller Bewilligung gekennzeichnet (§ 74 IRG). Der Bewilligungsbehörde ist dabei ein Ermessen eingeräumt, bei der „außen- und kriminalpolitische, aber auch humanitäre Belange des von der Rechtshilfemaßnahme Betroffenen“ zu berücksichtigen sind (Vogel/Burchard in Grützner ua, Int. Rechtsh. i. Strafs., 55. Lfg. 2023, IRG, Vor § 1 Rn. 274). Das deutsche IStGH-Ausführungsgesetz hält an dieser Dichotomie fest (§ 68 IStGH-G), damit Besonderheiten, die sich aus dem „häufig politischen Hintergrund der vom Gerichtshof zu behandelnden Taten“ (BT-Drs. 14/8527, 32) ergeben, in der Entscheidung des zuständigen Bundesjustizministeriums Rechnung getragen werden können.
Haftbefehle Zerreißprobe für Bundesregierung
Müsste die Bundesregierung sich den Vorwurf der Doppelmoral gefallen lassen, wenn sie hierzulande etwa die drei Hamas-Terroristen, nicht aber Netanjahu festnehmen ließe? Den Ministerpräsidenten eines Staates, dessen Gründung 1948 eine direkte Folge des Genozids an den europäischen Juden war und dessen Sicherheit seit der Rede von Angela Merkel vor der Knesset 2008 als Teil der deutschen Staatsräson bezeichnet wird, in Handschellen abführen zu lassen, würde Geister heraufbeschwören und weltweit Bilder erzeugen, vor deren Hintergrund die Bundesrepublik außen- wie innenpolitisch eine der größten Zerreißproben ihrer 75-jährigen Geschichte erleben könnte.
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