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Zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes zeigt eine neue Studie: Die Zustimmung ist hoch – sogar noch höher als früher. Aber in der Sicht der Bürger gelten nicht alle ihre Prinzipien als gleichermaßen umgesetzt, insbesondere beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Nicht alle Institutionen genießen ein gleich großes Vertrauen. Und die Einschätzungen zwischen sozialen Gruppen und politischen Strömungen, zwischen Ost- und Westdeutschen sowie zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund klaffen oft auseinander.

27. Mai 2024

Geleitet hat die Untersuchung für das Mercator Forum Migration und Demokratie (MIDEM) Politikprofessor Hans Vorländer; dahinter steht die Stiftung Mercator, die etwa für die Verständigung und den Austausch zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen und den Klimaschutz eintritt. Das wichtigste Ergebnis: 81 % aller Befragten finden, das Grundgesetz habe sich bewährt, nur 6 % sehen das gegenteilig. Bei Personen mit Migrationshintergrund liegt die Zustimmung niedriger, und zwar bei 71 %. Abstriche gibt es auch in den neuen Bundesländern: Dort sind lediglich 68 % der Bürger zufrieden mit der einst als Provisorium gedachten Verfassung; 15 % hätten sich nach der Wiedervereinigung eine komplett neue Rechtsgrundlage gewünscht, was Art. 146 GG aF nahegelegt hatte. Bundesweit sähe sogar ungefähr jeder dritte Mensch mit Migrationshintergrund gerne eine neue Verfassung; unter Einwohnern mit niedrigem Einkommen sind dies 22 %. Anhänger der AfD fordern zu 39 % eine Revision, solche des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) zu 31 %.

Für die verschiedenen Regelungen zeigt sich eine eindeutige Rangfolge. Als besonders wichtig für den Bestand der Demokratie gelten unter den Grundrechten die Unantastbarkeit der Würde des Menschen (Art. 1 I GG), die freie Meinungsäußerung (Art. 5 I GG) sowie die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit (Art. 8 I GG). Bereits auf Platz 3 der Beliebtheitsskala steht die Staatszielbestimmung zum "Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen", die 1994 als Art. 20a GG aufgenommen und 2002 um den Tierschutz ergänzt wurde. Deutlich weniger bedeutsam sind den Umfrageteilnehmern die föderale Gliederung, die "Schuldenbremse" – also die gebotene (und derzeit heftig diskutierte) Begrenzung der Verschuldung öffentlicher Haushalte – sowie das Recht auf Asyl. Immerhin 60, 62 bzw. 70 % bezeichneten aber auch diese Normen als "sehr wichtig" oder "eher wichtig". Eine Streichung des Asylrechts fordern bloß 16 %, eine relative Mehrheit von 38 % wünscht freilich eine Einschränkung der Zuwanderung. Und von Menschen, die die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen, fordern 97 %, dass sie "die Werte des Grundgesetzes achten und respektieren" (97 %). Als wichtig werden auch Spracherwerb (89 %) und Sicherung des Lebensunterhalts (84 %) angesehen.

Anspruch und Wirklichkeit

Recht und Realität sind auch hier in den Augen der Bürger zweierlei. Die Meinungsforscher wollten wissen, inwieweit die Verfassungsgrundsätze als gut oder weniger gut umgesetzt gelten. Ihr Fazit: "Stellt man diese Beurteilungen den Einschätzungen zur Wichtigkeit gegenüber, so zeigen sich zum Teil bemerkenswerte Unterschiede." Am größten ist die Kluft bei der "Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen": Hier finden magere 29 %, der Verfassungsgrundsatz sei "sehr gut" oder "eher gut" umgesetzt – die Differenz zur Erwartungshaltung beträgt rund 66 Prozentpunkte. Ähnlich unzufrieden sind die Deutschen mit den praktischen "Möglichkeiten direkt-demokratischer Beteiligung" (eine Lücke von 52 Prozentpunkten) und dem "Verbot verfassungsfeindlicher Parteien" (43). Am ehesten treffen sich der Erhebung zufolge Erwartungen und Situationsbeschreibungen bei der "Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit" (17), dem "Recht auf Asyl in Deutschland" (27) und dem "Föderalismus" (28).

Das Bundesverfassungsgericht, dem 34 % "voll und ganz vertrauen", genießt – neben Wissenschaft (33 %) und Polizei (25 %) – am meisten Anerkennung. Am schlechtesten schneiden Bundestag (10 %), Bundesregierung (5 %) und die Medien (2 %) ab. Allerdings meinen knapp 30 %, das höchste Gericht nehme wohl zu viel Einfluss auf die Politik. Jeder Vierte ist der Meinung, ARD und ZDF würden keine ausgewogene Berichterstattung bieten. Diesem Eindruck widerspricht jedoch eine relative Mehrheit von 44 %. Auch gelten die Öffentlich-Rechtlichen als glaubwürdiger als andere Medien. Noch ein aktuelles Polit-Thema: Ein soziales Pflichtjahr für Männer und Frauen findet eine Zustimmung von 64 %, einer Wiedereinführung der 2011 ausgesetzten Wehrpflicht stimmten 45 % zu.

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Prof. Dr. Joachim Jahn ist Mitglied der NJW-Schriftleitung.