Der lange Weg zur Selbstbestimmung
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Der Deutsche Bundestag hat am 12.4.​2024 das Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) beschlossen. Es handelt sich um ein historisches Ereignis für trans, inter oder nicht-binäre Menschen. Die rechtlichen Entwicklungslinien sollen hier kurz nachgezeichnet werden.

6. Mai 2024

„Was ist es denn, ein Junge oder ein Mädchen?“ Die Zuordnung zu einem bestimmten Geschlecht ist eine der ersten Amtshandlungen, mit denen das Standesamt ein neugeborenes Kind personenstandsrechtlich registriert. Stellt sich im Laufe des Lebens heraus, dass dieses zugewiesene Geschlecht nicht mit dem persönlichen Empfinden der Person übereinstimmt, fragt sich, wie veränderbar das Geschlecht im Recht ist. Lange gab es überhaupt keine Möglichkeit, den Geschlechtseintrag zu korrigieren. Das änderte sich mit dem Transsexuellengesetz (TSG), das seit 1981 eine rechtliche Geschlechtsänderung unter bestimmten Voraussetzungen ermöglichte. Man muss sich vergegenwärtigen, dass zur damaligen Zeit männliche Homosexualität in der Bundesrepublik noch unter Strafe stand (§ 175 StGB wurde erst 1994 ersatz- und restlos gestrichen) und Transsexualität nach den internationalen medizinischen Standards als Krankheit galt. Entsprechend rigide waren die rechtlichen Vorgaben für eine Änderung der geschlechtlichen Identität im Personenstandsrecht. Das Recht zwang Betroffene unter anderem zur Operation und zur Sterilisation, Ehen mussten aufgelöst und und das eigene Sein pathologisiert werden. Rechtliche Selbstbestimmung im höchstpersönlichen Geschlechtsempfinden war nicht vorgesehen.

Das BVerfG als Motor

Die zahlreichen Bruchstellen im TSG machten Betroffene sichtbar, die Fall um Fall zum BVerfG brachten. Das BVerfG erklärte so im Laufe einer jahrzehntelangen Rechtsprechung nahezu jede Regelung des TSG für verfassungswidrig. Am Ende blieb eine Gesetzesruine in Kraft, die als Voraussetzung für einen rechtlichen Geschlechts- und Vornamenswechsel „nur“ noch eine Begutachtungspflicht und eine gerichtliche Entscheidung erforderte. Gerade die Pflicht, zwei Sachverständigengutachten beibringen zu müssen, ist für die Betroffenen jedoch bis heute mit einem großen Herabwürdigungs- und Diskriminierungspotenzial verbunden. Die Gutachten sind teuer und zum Teil verbunden mit fragwürdigen Explorationen und grenzüberschreitenden Fragen. So sollen Betroffene beispielsweise demonstrieren, wie sie ihr T-Shirt ausziehen oder einen Ball fangen und Fragen nach den sexuellen Vorlieben und Masturbationsphantasien beantworten. 2018 entschied das BVerfG, dass der Gesetzgeber neben den Kategorien „männlich“ und „weiblich“ eine dritte Geschlechtskategorie schaffen müsse, wenn er nicht gänzlich auf die rechtliche Geschlechtsregistrierung verzichten wolle (BVerfGE 147, 1 = NJW 2017, 3643). Seither war es für nicht-binäre Personen möglich, in einem personenstandsrechtlichen Verfahren – also ohne Gericht und ohne Begutachtungszwang – den Geschlechtseintrag zu ändern.

Künftig selbstbestimmter Geschlechtseintrag

Diese Uneinheitlichkeit hat der Gesetzgeber nun beendet. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz wird zum 1.11.​2024 ein neues Verfahren eingeführt, mit dem der Geschlechtseintrag und der oder die Vorname(n) korrigiert werden können. Alle Betroffenen können fortan durch einfache Erklärung vor dem Standesamt einen Geschlechtseintrag „männlich“, „weiblich“ oder „divers“ selbst bestimmen; optional kann er auch offenbleiben. Damit wird das Grundrecht auf geschlechtliche Selbstbestimmung endlich umgesetzt (Mangold/Roßbach, JZ 2023, 756).

Freilich bleiben Unstimmigkeiten sowie Diskussions- und weitergehende Regelungsbedarfe. Was das Geschlecht im Recht ausmachen soll, ist mit dem SBGG weder einheitlich noch abschließend geklärt. So soll im Recht der Eltern-Kind-Zuordnung für die Person, die das Kind geboren hat, der Geschlechtseintrag nicht maßgeblich sein; für den zweiten Elternteil soll es hingegen darauf ankommen, dass der Geschlechtseintrag zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes „männlich“ war, oder dass ein Nachweis erbracht wird, dass das Kind mit „männlichen Keimzellen“ gezeugt wurde (Chebout, Verfassungsblog v. 23.5.​2023). Für den „Spannungs- und Verteidigungsfall“ soll es beim Geschlechtseintrag „männlich“ bleiben – auch für trans Frauen und nicht-binäre Personen. Das ist nicht nur rechtlich inkonsistent, sondern birgt die Gefahr von fortgesetzter Diskriminierung wegen des Geschlechts.

Darüber, was das Geschlecht aus- und rechtlich relevant macht, besteht also weiterhin Klärungsbedarf. Insofern ist das SBGG ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, jedoch gewiss nicht das letzte Wort in der Sache.

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Lucy Chebout ist Rechtsanwältin bei Raue, Berlin.