Anmerkung von
Senator E. h. Ottheinz Kääb, LL.M., Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht und Versicherungsrecht, München
Aus beck-fachdienst Straßenverkehrsrecht 8/2021 vom 29.04.2021
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StVG §§ 7, 17; StVO §§ 9, 10
Sachverhalt
Der Kläger nimmt die Beklagten auf Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall in Anspruch. Dabei kollidierte das von dem Kläger geführte Fahrzeug, als dieser abbiegen wollte, mit dem bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug des Erstbeklagten, das vom rechten Fahrbahnrand anfuhr. Der Kläger machte geltend, er habe seine Abbiegeabsicht ordnungsgemäß angezeigt. Die Kollision sei darauf zurückzuführen, dass der Erstbeklagte, gegen den ein Anscheinsbeweis streite, das Klägerfahrzeug übersehen habe. Die Beklagten machen geltend, der Unfall sei alleine von dem Kläger verschuldet worden, der ohne seine Abbiegeabsicht anzuzeigen plötzlich nach links gekreuzt sei, wohingegen der Unfall für den Erstbeklagten unabwendbar gewesen sei.
Das Amtsgericht hatte nach Beweiserhebung die Klage abgewiesen. Unter Berücksichtigung des Quotenvorrechts klagte der Kläger seine ursprüngliche Haftungsquote mit 50% jetzt im Wege der Berufung ein und hat damit Erfolg.
Rechtliche Wertung
Das Amtsgericht habe, führt die Berufungskammer aus, jedenfalls den Fahrverstoß des Beklagten nach § 10 StVO übersehen. Die Sorgfaltspflichten dieser Bestimmung seien so lange zu beachten, bis jede Auswirkung des Anfahrvorgangs auf das weitere Verkehrsgeschehen ausgeschlossen sei. Der Sachverständige habe hier ermittelt, dass der Beklagte bereits eine Anfahrstrecke in der Größenordnung von 12-15 Metern zurückgelegt habe.
Die Berufungskammer ist der Meinung, dass die Strecke geringer gewesen sei. Jedenfalls habe noch ein unmittelbarer räumlicher und zeitlicher Zusammenhang mit dem Anfahrvorgang bestanden.
Sei in die Haftungsverteilung auf Beklagtenseite damit ein Verstoß gegen § 10 StVO einzustellen, sei nicht mehr entscheidungserheblich, ob in der vorliegenden Konstellation gegen den Kläger ein Anscheinsbeweis für einen Verstoß gegen § 9 StVO streite.
Praxishinweis
Die Entscheidung legen wir hier vor, weil es sich um einen geradezu typischen Unfallablauf handelt. Die Entscheidung ist aber auch deshalb als sehr sorgfältig zu begrüßen, weil das Quotenvorrecht angewendet wird und in der Entscheidung auch erklärend unterschieden wird zwischen deckungsgleichen, kongruenten, Schäden und inkongruenten Schäden, die der Haftungsquote unterliegen. Diese klare Unterscheidung wird häufig übersehen.
Zum Anspruchsgrund kommt es nicht auf die Meter an, die ein an sich Wartepflichtiger zurückgelegt hat, sondern es kommt darauf an, dass jede Gefahr, die mit seinem Fahrmanöver verbunden war, beseitigt ist. Man kann dies auch anders ausdrücken und mit Geschwindigkeiten erklären: Die Gefahr des Anfahrens, des Vorfahrtsverletzens ist dann vorbei, wenn der an sich Wartepflichtiger in der Verkehrsgeschwindigkeit «mitschwimmt», die andere Verkehrsteilnehmer an dieser Stelle bereits inne haben.
LG Saarbrücken, Urteil vom 23.12.2020 - 13 S 117/20 (AG Lebach), BeckRS 2020, 45031