Urteilsanalyse
Fortbestand von Beitragsschulden nach der Privatinsolvenz
Urteilsanalyse
SM_urteil_CR_FM2_adobe
© Stefan Yang / stock.adobe.com
SM_urteil_CR_FM2_adobe

Der unter den Pfändungsfreigrenzen liegende Teil einer Altersrente gehört nicht zur Insolvenzmasse und kann mit offenen Beitragsforderungen verrechnet werden. Insoweit erlöschen nach einem Urteil des BSG die Beitragsforderungen auch nicht durch eine Privatinsolvenz. Das ist Folge der Privilegierung der Sozialversicherungsträger gem. §§ 52, 51 Abs. 2 SGB I. 

13. Jun 2023

Wiss. Mitarbeiterin Stephanie Plagemann, Plagemann Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Frankfurt am Main

Aus beck-fachdienst Sozialversicherungsrecht 11/2023 vom 09.06.2023

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Sozialversicherungsrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Sozialversicherungsrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Sozialversicherungsrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de

Sachverhalt

Der Kläger begehrt in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter über das Vermögen des beigeladenen Versicherten (zu 1) die Zahlung von 4800 EUR. Der Beigeladene zu 1 bezieht seit Mai 2006 eine Altersrente von der beklagten Deutschen Rentenversicherung. Die beigeladene BG Bau (zu 2) ist Inhaberin einer bestandskräftig gegen sie festgesetzte Beitragsforderung über 9271,90 EUR. Mit Schreiben vom 13.04.2006 und 30.10.2006 erneuerte sie ein bereits zuvor gestelltes Verrechnungsersuchen bei der Beklagten. Diese verfügte nach Anhörung des Beigeladenen zu 1, dass die Beitragsforderung der Beigeladenen zu 2 ab Dezember 2007 monatlich i.H.v. 100 EUR mit dem Rentenanspruch verrechnet werde, bis die Forderung getilgt sei.

Im Mai 2008 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Beigeladenen zu 1 eröffnet und der Kläger zum Insolvenzverwalter bestellt. Er vertrat die Ansicht, die Verrechnung sei nur innerhalb der Zweijahresfrist des § 114 InsO aF zulässig, mithin letztmals im Mai 2010. Die Beklagte war anderer Auffassung und setzte die Verrechnung über Mai 2010 hinaus fort. Mit einem Schreiben aus Oktober 2011 erklärte der Beigeladene zu 1 sein Einverständnis damit, dass der Kläger in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter bestehende Nachzahlungsansprüche gegen die Beklagte im Namen der Insolvenzmasse geltend mache. Der Beigeladene zu 1 erklärte zudem höchst vorsorglich die Abtretung der Ansprüche auf Nachzahlung der zu Unrecht verrechneten Beträge an die Insolvenzmasse, soweit sie nicht bereits nach §§ 35, 36 InsO in die Masse fielen.

Der Kläger hat im April 2013 eine kombinierte Feststellungs- und Leistungsklage erhoben. Dem Beigeladenen zu 1 ist ab Mai 2014 Restschuldbefreiung erteilt worden. Die Beklagte hat die Verrechnung ab Oktober 2014 eingestellt und das vom Kläger angenommene Teilanerkenntnis abgegeben, die für Juni 2014 bis September 2014 von seiner Rente einbehaltenen Beträge an den Beigeladenen zu 1 zu zahlen. Die verbliebene Klage hat das SG Lübeck abgewiesen. Der Kläger hat mit seiner dagegen eingelegten Berufung nur noch die Zahlung von 4800 EUR an den Beigeladenen zu 1, hilfsweise an sich selbst in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter begehrt. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen. Die Verrechnung mit den Rentenzahlungen für Juni 2010 bis Mai 2014 sei rechtmäßig erfolgt. Das Insolvenzverfahren habe der Verrechnung nicht entgegengestanden. Die Rente habe im streitbefangenen Zeitraum durchgehend unterhalb der Pfändungsfreigrenze für Arbeitseinkommen gelegen. Da die Zahlungsansprüche des Beigeladenen zu 1 nicht in die Insolvenzmasse gefallen seien, bestünden weder die Verrechnungshindernisse nach den §§ 95, 96 InsO noch gelte die Zweijahresfrist des § 114 InsO aF.

Der Kläger rügt mit seiner vom BSG zugelassenen Revision eine Verletzung des § 114 InsO aF und des § 87 InsO. Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Entscheidung

Die Revision des Klägers wird zurückgewiesen.

Die Klage ist mit dem auf Zahlung an den Beigeladenen zugerichteten Hauptantrag jedenfalls unbegründet. Der Kläger verfolgt sein Begehren zwar zutreffend mit der Leistungsklage (§ 54 Abs. 5 SGG), es ist aber bereits zweifelhaft, ob der Kläger prozessführungsbefugt ist. Die streitbefangenen Zahlungsansprüche aus der zuerkannten Altersrente für Juni 2010 bis Mai 2014 gehörten gem. § 36 Abs. 1 Satz 1 und 2 InsO i.V.m. § 850 Abs. 1 ZPO nicht zur Insolvenzmasse. Sie unterfielen der Zwangsvollstreckung nicht, weil die Zahlbeträge unterhalb der jeweils geltenden Pfändungsfreigrenze für Arbeitseinkommen lagen. Infolge der wirksamen Verrechnung bestehen keine Zahlungsansprüche des Beigeladenen zu 1 gegen die Beklagte mehr.

Die Beklagte war berechtigt, die Beitragsforderung der Beigeladenen monatlich mit den Rentenansprüchen zu verrechnen. Denn im streitbefangenen Zeitraum bestand durchgehend eine Verrechnungslage gem. den §§ 52, 51 Abs. 1 SGB I iVm § 387 BGB. Danach unterliegt auch der unpfändbare Teil der Rentenansprüche der Verrechnung, solange nicht Sozialhilfebedürftigkeit eintritt. Die Verrechnung war auch nicht gem. § 114 Abs. 2 Satz 1 iVm Abs. 1 InsO in zeitlicher Hinsicht beschränkt. Die von der Verrechnung betroffenen Forderungen des Beigeladenen zu 1 gegen die Beklagte unterfielen nicht dem sachlichen Anwendungsbereich der Norm. Ebenso wenig verstieß die Verrechnung gegen den insolvenzrechtlichen Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung oder den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

Praxishinweis

1.  Der Gesetzgeber hat den Sozialleistungsträgern mit den Regelungen in den §§ 52, 51 Abs. 2 SGB I die Möglichkeit eröffnet, zur Durchsetzung ihrer Beitrags- und Erstattungsforderungen mit diesen auch gegen den unpfändbaren Teil einer laufenden Geldleistung bis zu deren Hälfte und bis zur Grenze der Hilfebedürftigkeit i.S.d. Sozialhilferechts aufzurechnen bzw damit zu verrechnen. Die Regelungen bezwecken eine Privilegierung der Sozialleistungsträger, die bestimmte „systemerhaltende“ Gegenansprüche (Ansprüche auf Erstattung zu Unrecht erbrachter Sozialleistungen; Beitragsansprüche) haben.

Das Verfahren der Verbraucherinsolvenz zielt zwar auf eine Wiederherstellung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Insolvenzschuldners, dies führt jedoch nicht dazu, dass Verrechnungen und Aufrechnungen gegen unpfändbare Forderungen unterbleiben müssen, sondern es gilt die gem. § 51 Abs. 2, § 51 SGB I bezweckte, sachlich begrenzte Privilegierung der Sozialversicherungsträger. Die Rechtsfolgen einer Verrechnung werden durch Verwaltungsakt geregelt.

2. Das LSG Berlin-Brandenburg hat weitergehend entscheiden, dass auch nach Abschluss der Privatinsolvenz hinsichtlich offener Beitragsansprüche keine Schuldbefreiung eintritt. Nach der Privatinsolvenz muss also der Rentenempfänger weiterhin die Verrechnung mit Beitrags-Altschulden hinnehmen, unabhängig davon, ob die Beitragsschulden zur Insolvenztabelle angemeldet worden sind oder nicht (LSG Berlin-Brandenburg, NZS 2023, 359 m. Anm. Wiebke Brose, Revision anhängig). Dann stellt sich aber die Frage, ob es Grenzen gibt: Kann der Sozialleistungsträger nach abgeschlossener Privatinsolvenz auf jegliche Einkünfte und Vermögenswerte zugreifen oder nur in der bisher verrechneten Höhe?

BSG, Urteil vom 10.11.2022 - B 5 R 27/21 R, BeckRS 2022, 46470