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Formenmissbrauch durch Formulierungshilfen
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In der Corona-Krise nutzen die Bundesregierung und die sie tragenden politischen Parteien in großem Umfang so genannte Formulierungshilfen, um von einem Ministerium erstellte Gesetzentwürfe durch die Koalitionsfraktionen in das Gesetzgebungsverfahren einbringen zu lassen und dadurch zeitsparend eine erste Befassung des Bundesrats zu umgehen.

12. Jun 2020

In dreifacher Hinsicht missbraucht diese Praxis das allein in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesregierung (GGO) erwähnte Instrument der Formulierungshilfen: Bezüglich des Umfangs sind Formulierungshilfen an sich nur als punktuelle Unterstützung zu einzelnen Aspekten eines Gesetzentwurfs gedacht, bezüglich des Autors sollen sie vor allem legislatorische Hilfe bei der Umsetzung eines anderweitig gebildeten politischen Willens leisten und bezüglich des Zeitpunkts sind sie primär auf Änderungsanträge zu einem bereits im Verfahren befindlichen Gesetzentwurf zugeschnitten.

Unechte Bundestagsbeschlüsse als kollusive Farce

Wenn wie derzeit vollständige Gesetzentwürfe einschließlich Begründung von einem einzelnen Bundesministerium ausgearbeitet und wortgleich von den Regierungsfraktionen eingebracht werden, handelt es sich der Sache nach um unechte Bundestagsinitiativen. Sie sind ein großer Etikettenschwindel, schlimmer noch, sie sind eine kollusive Farce. Denn ihre Autorenschaft wird gar nicht geleugnet. Die Formulierungshilfen der jeweiligen Ministerien finden sich im Netz, werden zum Teil wohl auch betroffenen Verbänden vorab zugänglich gemacht, die – jedenfalls teilweise – dazu Stellung nehmen können. Trotzdem sind sich die Abgeordneten der Regierungsfraktionen nicht zu schade, sich formal – und das heißt vor allem gegenüber dem Grundgesetz – als Initiatoren eines Gesetzentwurfs auszugeben, den sie im Zweifel kaum kennen und dem sie doch (partei-)blind vertrauen.

„Was schadet es?“, werden effizienzorientierte Politiker und Beobachter fragen, die verfassungsrechtliche Verfahrensvorschriften als bloße Förmelei verstehen. Und welche Vorschrift sollte dem entgegenstehen? Tatsächlich setzt das Grundgesetz mit seinen Vorgaben für das Gesetzgebungsverfahren recht spät an, regelt erst die Einbringung eines Gesetzentwurfs, verhält sich aber nicht zu dessen Autoren. Wenn Abgeordnete sich das Werk anderer zu eigen machten und dafür die politische Verantwortung übernähmen, sei dies verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, argumentiert die wohl sogar h.M. und hebt den praktischen Vorteil von Bundestagsinitiativen hervor, der häufig als entscheidendes Motiv genannt wird: den Zeitgewinn. Denn anders als Regierungsvorlagen müssen Bundestagsinitiativen nicht zunächst dem Bundesrat zu einer ersten Stellungnahme zugeleitet werden. Das Verfahren kann so um mindestens drei Wochen verkürzt werden. Substanzielle Rechte gingen dem Bundesrat nicht verloren, wird die offensichtliche Umgehung des Art. 76 II GG gerechtfertigt, denn dem Bundesrat bleiben seine Rechte aus Art. 77 GG im weiteren Verfahren erhalten.

Kurzfristiger Zeitgewinn vs. strukturelle Verluste

Diese formale Betrachtung greift jedoch zu kurz. Dem Zeitgewinn steht eine Reihe von Verlusten entgegen (die mitunter vielleicht sogar intendiert sind). Zum einen sind Bundestagsinitiativen nicht an die GGO gebunden. Dementsprechend finden die Vorgaben zur Interessenermittlung, zur Betroffenenbeteiligung, zur Gesetzesfolgenabschätzung, zur Einbindung des Nationalen Kontrollrats und selbst zur regierungsinternen Einbindung anderer Ministerien keine Anwendung (was nicht heißen muss, dass sie bei jeder Formulierungshilfe außer Acht gelassen werden). Bereits vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob die im Verfahren gesparte Zeit mittelfristig wirklich gewonnen ist und ob nicht jenseits der konkreten Gesetzesinhalte Standards guter Gesetzgebung verloren gehen. Schwerer wiegt zum anderen, dass die eigentlichen Gründe für die Berechtigung der Abgeordneten zur Einbringung von Gesetzesinitiativen unterlaufen werden: Ihre unmittelbare demokratische Legitimation, ihre Funktion als Vertreter des ganzen Volkes und ihre Unterwerfung allein unter ihr Gewissen heben die Abgeordneten und mit ihnen die Fraktionen über die politischen Parteien hinaus. Echte Bundestagsinitiativen sind insofern nicht nur Ausdruck eines Gegengewichts zur Bundesregierung, sondern auch der Stärke der Fraktionen gegenüber den Parteien. Dass sie sich dieser Stärke begeben und ihre Initiativbefugnis ohne Zögern an die in der Regierung, womöglich gar in einem einzelnen Ministerium wirkenden Parteien durchreichen, ist die eigentliche Schwäche der exzessiven Nutzung von Formulierungshilfen. •

Prof. Dr. Matthias Rossi lehrt unter anderem Staats- und Verwaltungsrecht sowie Gesetzgebungslehre an der Universität Augsburg.