Urteilsanalyse
Formell fehlerhafte Massenentlassungsanzeige
Urteilsanalyse
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Die Massenentlassungsanzeige ist nach einem Urteil des LAG Hamm unwirksam, wenn der Arbeitgeber ihr eine Stellungnahme des Betriebsrats nicht beifügt (§ 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG) bzw. er nicht glaubhaft macht, dass er den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige nach § 17 Abs. 2 KSchG unterrichtet hat oder Darlegungen zum Stand der Beratungen gem. § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG unterlässt oder irreführend darstellt.

14. Jun 2021

Anmerkung von

Rechtsanwalt Joachim Zobel, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Schultze & Braun GmbH Rechtsanwaltsgesellschaft

Aus beck-fachdienst Insolvenzrecht 12/2021 vom 10.06.2021

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Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung der Insolvenzschuldnerin. Diese legte zwei Betriebe still, in denen Betriebsräte („BR“) und ein Gesamtbetriebsrat („GBR“) gebildet waren. Zwischen den Betriebsparteien fanden Verhandlungen über den Interessenausgleich („IA“) und den Sozialplan („SP“) statt, die jedoch scheiterten. Es wurde eine Einigungsstelle („E-Stelle“) eingerichtet; die E-Stelle stellte das Scheitern der Verhandlungen über einen IA fest.

Vor dem Ausspruch der Kündigungen erstattete die Insolvenzschuldnerin bei der Arbeitsagentur jeweils eine Massenentlassungsanzeige („MEA“). In den Formularblättern zur jeweiligen MEA gab sie an, dass eine Stellungnahme des BR zu den angezeigten Entlassungen nicht beigefügt sei. Der BR sei gem. § 17 Abs. 2 KSchG schriftlich informiert worden. Eine Kopie der Mitteilung sei der Anzeige als Anlage 3 beigefügt. Als Anlage 3 war der MEA das Anschreiben, welches wiederum als Anlage eine E-Mail der Bevollmächtigten des GBR enthielt, beigefügt. Die E-Mail war an den Vorsitzenden der E-Stelle gerichtet. Als „Betreff“ wurde in der Mail „Einigungsstelle I1, vorbereitender Schriftsatz“ angegeben. Die Arbeitsagentur bestätigte den vollständigen Eingang der Anzeige.

Der Kläger rügt die Unwirksamkeit der Kündigung mit der Begründung, ihr sei keine wirksame MEA vorausgegangen.

Entscheidung

Die von der Beklagten eingelegte Berufung wurde als unbegründet zurückgewiesen.

Die Beklagte habe die nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG erforderliche MEA nicht ordnungsgemäß iSv § 17 Abs. 3 KSchG erstattet. Die MEA solle es der Arbeitsagentur ermöglichen, rechtzeitig Maßnahmen zur Vermeidung von Belastungen des Arbeitsmarkts einzuleiten und für anderweitige Beschäftigung der Betroffenen zu sorgen. Zu diesem Zweck sollten die Durchführung und ggf. das Ergebnis des Konsultationsverfahrens dokumentiert werden, vgl. § 17 Abs. 3 Sätze 2, 3 KSchG. Dies solle dem nach § 20 KSchG zuständigen Ausschuss ermöglichen, auf einfache Weise und ohne zeitliche Verzögerung festzustellen, ob die Anzeige wirksam sei.

Des Weiteren müsse eine Abschrift der Anzeige nach § 17 Abs. 3 Satz 6 KSchG dem BR zugeleitet werden, damit dieser ggf. nach § 17 Abs. 3 Satz 7 KSchG eine weitere Stellungnahme gegenüber der Arbeitsagentur abgeben könne. Diese Zwecke könnten nur dann erreicht werden, wenn den entsprechenden Entscheidungsträgern und dem BR eine vollständige MEA, die auch die zwingend erforderlichen Angaben nach § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG enthalte, zugehe.

Die Beklagte habe in der MEA weder dargelegt noch glaubhaft gemacht, dass sie den BR mindestens zwei Wochen vor der Erstattung der Anzeige nach § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG unterrichtet hatte. Das an den GBR gerichtete und der MEA beigefügte Anschreiben genüge nicht den Anforderungen des § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG, denn dieses habe die Beklagte dem GBR erst drei Tage vor der Erstattung der MEA zukommen lassen.

Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem Inhalt des Schreibens, dem lediglich entnommen werden könne, dass Verhandlungen über den Abschluss eines IA stattgefunden hätten und man davon ausgehe, dass allen BR die dem Schreiben zugrunde liegenden Überlegungen bekannt seien. Gleiches gelte für die der MEA beigefügte E-Mail, da diese lediglich den Gang der Verhandlungen über den Abschluss eines IA und SP schildere.

Soweit sich die Beklagte darauf berufe, ihr Personalleiter habe vor Einreichung der MEA ein persönliches Gespräch mit der Sachbearbeiterin der Arbeitsagentur geführt und dabei erklärt, die Insolvenzschuldnerin habe im Rahmen der Verhandlungen über den Abschluss eines IA und SP gleichzeitig auch das Konsultationsverfahren durchgeführt, könne sie mit diesem Vorbringen nicht gehört werden, da die Angaben, die nach § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG glaubhaft zu machen seien, in die nach § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG schriftliche zu erstattende Anzeige aufgenommen werden müssten.

Praxishinweis

Obwohl das Interessenausgleichsverfahren gem. § 111 BetrVG und das Konsultationsverfahren gem. § 17 KSchG miteinander verbunden werden können, handelt es sich um selbständige Verfahren mit streng einzuhaltenden eigenen formellen Voraussetzungen.

Der IA gem. § 125 Abs. 2 InsO ersetzt die Stellungnahme des BR. Liegt jedoch weder ein solcher IA noch eine gesonderte Stellungnahme des BR vor, die sich auf die Beratungen bezieht und aus der sich ergibt, dass diese abgeschlossen sind und der BR seine Beteiligungsrechte als gewahrt ansieht, muss der Arbeitgeber gegenüber der Arbeitsagentur gem. § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG glaubhaft machen, dass er den BR mindestens zwei Wochen vor der Erstattung der MEA schriftlich gem. § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG unterrichtet hat. Insbesondere bei der Einsetzung einer E-Stelle ist die schriftlliche Unterrichtung sowohl in zeitlicher als auch inhaltlicher Hinsicht mit größter Sorgfalt vorzunehmen und zu dokumentieren; bei länger dauernden Verhandlungen ist sie ggf. auch zu aktualisieren.

Ein Bescheid der Arbeitsagentur nach §§ 18, 20 KSchG, in welchem diese den vollständigen Eingang der Anzeige bestätigt, hindert die Feststellung der Unwirksamkeit der MEA durch die Arbeitsgerichtsbarkeit nicht.

LAG Hamm, Urteil vom 17.07.2020 - 16 Sa 1907/19 (ArbG Bocholt), BeckRS 2020, 46872