Kolumne
Fläche
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© Frank Eidel

Dass Politik mit dem Betrachten der Wirklichkeit anfängt, soll Kurt Schumacher gesagt haben, ist aber nicht belegt. Kann auch vom früheren CDU-Politiker Erwin Teufel sein, der sich allerdings auf Schumacher berief – vermutlich wollte er Sozialdemokraten von etwas überzeugen, da helfen Schumacher- wie auch Brandt-Zitate immer. Richtig ist es auf jeden Fall. Auch wenn es um Anwälte und deren Zukunft geht.

15. Sep 2022

Gerade hat die Präsidentin der Sächsischen Anwaltskammer in einem Beitrag die Ergebnisse einer BRAK-Studie vorgestellt, mit der die Entwicklung der Anwaltschaft in Ostdeutschland untersucht wurde. ­Darin verweist sie zunächst auf Herausforderungen der Fläche – lange Fahrzeiten zu Gerichten und kaum Nachwuchs, keine Referendare. Insgesamt gehen die Anwaltszahlen zurück, aber die Zahlen belegen auch eine „kürzere Verweildauer“ im Anwaltsberuf. Nur 5 % derjenigen, die ihre Zulassung zurückgeben, finden einen Nachfolger. Im Osten verdienen Anwälte deutlich weniger als im Westen. Der Beitrag enthält eine Reihe von Vorschlägen, um den Rückgang zu stoppen. Sehr lesenswert. Sein Titel – „Rückzug der Anwaltschaft aus der Fläche“ – ist vielleicht ein bisschen Clickbaiting, denn „die Fläche“ scheint ein Sehnsuchtsort der Anwaltschaft zu sein, als würde sich dort unsere Zukunft entscheiden. Auch die DAV-Präsidentin stellt ihre Herkunft aus der Fläche in den Vordergrund und in den Mittelpunkt ihrer berufspolitischen Agenda. Der Beitrag führt die „Fläche“ nicht nur im Titel, sondern verwendet den Begriff insgesamt zwölfmal, einmal im Begriff „Flächenkammer“, was zwar nicht in der BRAO steht, aber man weiß, was gemeint ist.

Sind es nur geographische Gründe, die zum Rückzug führen? Oder zeigt sich hier die tiefgreifende Veränderung der Anwaltschaft, die überall stattfindet? Viele Anpassungsprobleme des Berufsstands bei der ­Digitalisierung sieht man vielleicht in der Fläche besonders gut. Es geht um die als „Feld-, Wald- und Wiesenanwälte“ bezeichneten Kollegen, deren Tätigkeit lokal, bestenfalls regional ausgerichtet ist. Juristische Grundversorgung vor Ort. Selten spezialisiert, eher fachlich exzellente Allgemeinanwälte, Generalisten, denen Wissen, Erfahrung und Judiz helfen, auch unbekannte Rechtsthemen zu bearbeiten. Fachanwälte für Jura. Solche Kollegen gibt es nebenbei bemerkt auch in Großstädten. Sie sind unter erheblichem wirtschaftlichen Druck. Gäbe es dort genügend auskömmliches Mandatsgeschäft, gäbe es keinen Rückzug. Die Generalisten sind der bundesweit agierenden Konkurrenz der Spezialisten einerseits und der Rechtsdienstleister andererseits kaum noch gewachsen. Zwar nah bei den Leuten, aber nicht so nah wie das Smartphone, wo die Konkurrenz erreichbar ist.

Menschen in der Fläche brauchen einen vernünftigen Internetanschluss, um teilnehmen zu können, nicht nur in Rechtssachen. Auch eine dauerhafte Kanzleipräsenz? Das erscheint fraglich. Vielleicht ist die „Fläche“ als berufspolitische Kategorie Teil der Vergangenheit. Die Studie der BRAK könnte dafür sprechen.

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Markus Hartung ist Rechtsanwalt und Mediator in Berlin, Senior Fellow des Bucerius Center on the Legal Profession und Mitglied des Berufsrechtsausschusses des DAV..