Urteilsanalyse
Feststellungen zum Rücktrittshorizont des Täters sind unverzichtbar
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Lässt sich den Urteilsfeststellungen das zur revisionsrechtlichen Prüfung des Vorliegens eines freiwilligen Rücktritts vom Versuch unerlässliche Vorstellungsbild des Täters nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung nicht hinreichend entnehmen, stellt dies nach Ansicht des BGH einen durchgreifenden sachlich-rechtlichen Mangel dar.

29. Jul 2022

Anmerkung von Rechtsanwalt Dr. Nicolas Böhm, Ignor & Partner GbR, Berlin

Aus beck-fachdienst Strafrecht 15/2022 vom 28.07.2022

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Sachverhalt

Das LG hat A wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten verurteilt und dessen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Nach den Feststellungen stand der erheblich alkoholisierte A mit mehreren Personen (u.a. mit I, G und S) in gelöster Stimmung vor einem Supermarkt, als dieser – so das LG – „plötzlich und ohne jede Vorwarnung, aber auch ohne ermittelbares Motiv oder ermittelbaren Anlass mit einem Einhandmesser in einer durchgehenden raschen Bewegung einen annähernd waagrechten Schnitt gegen den Hals des I ausführte“. Als G daraufhin einen Notruf absetzen wollte, trat A mit dem sinngemäßen Bemerken: „Hier ruft keiner den Krankenwagen!“ auf ihn zu und riss ihm das Handy aus der Hand. Nach einem kurzen Gerangel zwischen A und S konnte G schließlich das Handy zurückerlangen und einen Notruf absetzen. Anschließend kümmerten sich G und S um den verletzten I, der kniend mit seiner Hand auf die blutende Wunde drückte. A verließ währenddessen den Tatort und wurde kurze Zeit später von der Polizei festgenommen.

Entscheidung

Die Revision des A hatte mit der Sachrüge Erfolg. Der BGH hob den gesamten Schuldspruch auf. Das LG habe die Ablehnung eines strafbefreienden Rücktritts vom versuchten Totschlag „ungeachtet des Rücktrittshorizonts“ des A aus seinem unmittelbaren Nachtatverhalten bzw. den Reaktionen von G und S hergeleitet. Zum Vorstellungsbild des A nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung, dem sog. Rücktrittshorizont, habe sich das LG indes nicht verhalten. Das entsprechende Vorstellungsbild sei zur revisionsrechtlichen Prüfung des Vorliegens eines freiwilligen Rücktritts vom Versuch aber unerlässlich. Fehlen Feststellungen hierzu, stelle dies einen sachlich-rechtlichen Mangel dar, der zur Aufhebung des Urteils nötige.

Praxishinweis

Die Entscheidung des BGH ist richtig.

Insbesondere wenn der Täter von (zunächst nicht vorgesehenen) weiteren Handlungsmöglichkeiten Abstand nimmt, nachdem das Tatgeschehen nicht plangemäß verlaufen ist, oder er von vornherein ohne bestimmten Tatplan vorgegangen ist, hängen nicht nur die Anforderungen an die von ihm zu erbringenden Rücktrittsbemühungen, sprich die Abgrenzung zwischen unbeendetem (§ 24 Abs. 1 S. 1 Var. 1 StGB: bloßes Aufgeben der Tatausführung) und beendetem Versuch (§ 24 Abs. 1 S. 1 Var. 2 StGB: gewolltes kausales Verhindern der Vollendung), sondern bereits die Frage, ob der Versuch fehlgeschlagen, ein strafbefreiender Rücktritt also überhaupt noch möglich ist, vom subjektiven Vorstellungsbild des Täters zum Zeitpunkt der letzten Ausführungshandlung, dem im Wege einer Gesamtbetrachtung zu ermittelnden Rücktrittshorizont, ab.

Insofern gilt: Ein Versuch ist (erst) dann fehlgeschlagen, wenn der Täter nach seinem Rücktrittshorizont die Tat mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr ohne zeitliche Zäsur vollenden kann. Sind nach seiner Vorstellung die Mittel erschöpft, andere nicht greifbar oder nicht erfolgversprechend einsetzbar, ist der Versuch fehlgeschlagen. Unbeendet ist der Versuch, wenn der Täter glaubt, noch nicht alles Erforderliche getan zu haben, um den tatbestandlichen Erfolg herbeizuführen und die Vollendung aus seiner Sicht noch möglich erscheint. Beendet ist er, wenn der Täter nach seiner subjektiven Vorstellung alles für die Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolges Erforderliche getan hat und den Erfolgseintritt für möglich hält (zum Ganzen: Fischer StGB, § 24 Rn. 6 ff., 14 ff., 17 ff.).

Lassen sich anhand der Urteilsfeststellungen diese nicht immer einfachen Abgrenzungen nicht vornehmen, etwa weil sich das Tatgericht mit dem Vorstellungsbild des Täters nicht hinreichend auseinandergesetzt hat (das LG verwendet vorliegend gar die Formulierung „ungeachtet des Rücktrittshorizonts“), stellt dies einen durchgreifenden sachlich-rechtlichen Mangel dar (BGH BeckRS 2020, 7435). Diese und eine Vielzahl weiterer obergerichtlicher Entscheidungen (vgl. nur BGH BeckRS 2021, 5846) zu den Voraussetzungen eines strafbefreienden Rücktritts zeigen, dass an diesem Punkt enormes Verteidigungspotential besteht, das sowohl in der Tatsachen- als auch in der Rechtsmittelinstanz vollends ausgeschöpft werden sollte.


BGH, Beschluss vom 01.02.2022 - 2 StR 306/21 (LG Mühlhausen), BeckRS 2022, 16568