Urteilsanalyse
Feststellung einer "Gehörsrügefalle" des Verteidigers erfordert Würdigung aller Umstände des Einzelfalls
Urteilsanalyse
urteil_lupe
© Stefan Yang / stock.adobe.com
urteil_lupe

Unter den Bedingungen eines Sitzungstags kann laut KG nicht damit gerechnet werden, dass der Abteilungsrichter einen kurz zuvor eingereichten umfangreichen Schriftsatz in der unter normalen Voraussetzungen gebotenen und üblichen Gründlichkeit und Sorgfalt liest. Die Einschätzung, ob in einem solchen Schriftsatz mit der Absicht, eine "Gehörsrügefalle" zu stellen, ein Entbindungsantrag rechtsmissbräuchlich "versteckt" wurde, erfordere eine Würdigung aller Umstände des Einzelfalls.

2. Sep 2021

Anmerkung von 
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht und Steuerrecht, Björn Krug, LL.M. (Wirtschaftsstrafrecht), Ignor & Partner GbR, Frankfurt a.M. 

Aus beck-fachdienst Strafrecht 18/2021 vom 0209.2021

Diese Urteilsbesprechung ist Teil des zweiwöchentlich erscheinenden Fachdienstes Strafrecht. Neben weiteren ausführlichen Besprechungen der entscheidenden aktuellen Urteile im Strafrecht beinhaltet er ergänzende Leitsatzübersichten und einen Überblick über die relevanten neu erschienenen Aufsätze. Zudem informiert er Sie in einem Nachrichtenblock über die wichtigen Entwicklungen in Gesetzgebung und Praxis des Strafrechts. Weitere Informationen und eine Schnellbestellmöglichkeit finden Sie unter www.beck-online.de.

Sachverhalt

Das AG hat den Einspruch des B gegen den Bußgeldbescheid des Polizeipräsidenten nach § 74 Abs. 2 OWiG mit der Begründung verworfen, der B sei der Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung ferngeblieben. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde des B hat das AG als unzulässig verworfen. Es war der Auffassung, die Rechtsbeschwerdeanträge seien verspätet angebracht worden. Sowohl der hiergegen gerichtete Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts als auch die Rechtsbeschwerde selbst haben Erfolg.

Entscheidung

Das AG habe die Rechtsbeschwerdebegründung nach Anssicht des KG unzutreffend als verspätet angesehen. Werde ein Urteil schon vor der Einlegung des Rechtsmittels zugestellt, so schließe sich die Rechtsmittelbegründungsfrist an die Einlegungsfrist an. Bei der Berechnung der Begründungsfrist müsse in diesem Fall zunächst der Ablauf der einwöchigen Einlegungsfrist (§ 79 Abs. 1 OWiG, § 341 Abs. 1 StPO) festgestellt werden. Erst mit Ablauf dieser Frist beginne die Monatsfrist (§ 79 Abs. 1 OWiG, § 345 Abs. 1 StPO) zu laufen. Hier sei das angefochtene Urteil am 5.5.2021 zugestellt worden. Damit endete die einwöchige Einlegungsfrist mit Ablauf des 12.5.2021. Die einmonatige Begründungsfrist habe hiernach zu laufen begonnen, so dass der Eingang der Begründungsschrift am Montag, dem 14.6.2021 rechtzeitig gewesen sei.

Die Verfahrensrüge, das AG habe den Antrag des B, ihn gemäß § 73 Abs. 2 OWiG von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen zu entbinden, übergangen und daher durch die Verwerfung seines Einspruchs nach § 74 Abs. 2 sein rechtliches Gehör verletzt, sei ordnungsgemäß ausgeführt. Die Verfahrensrüge enthalte alle notwendigen Darlegungen. So habe der B mit der Rechtsbeschwerde vorgetragen, einen Antrag gestellt zu haben, von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden zu werden. Auch sei dargelegt worden, wessen der B beschuldigt wird. Der sonst im Rahmen einer Gehörsrüge erforderlichen Darlegung, was der B in der Hauptverhandlung vorgetragen hätte, bedürfe es hier nicht, weil er nicht rüge, dass ihm eine Stellungnahme zu entscheidungserheblichen Tatsachen verwehrt worden sei, sondern dass das Gericht den Entbindungsantrag seines Verteidigers nicht ausreichend zur Kenntnis genommen habe.

Die Rüge sei auch begründet, weil das AG den Entpflichtungsantrag übergangen habe. Allerdings seien bei der Beurteilung des Sachverhalts alle - hier durchaus vielschichtigen - Umstände in den Blick zu nehmen. So sei zu würdigen gewesen, dass der Entbindungsantrag erst am 27.4.2021, also dem Tag vor der Hauptverhandlung, angebracht worden und erst um 17 Uhr beim AG eingegangen sei; die Hauptverhandlung habe am Folgetag um 12:50 Uhr stattgefunden. Der Schriftsatz des Verteidigers habe 13 Seiten umfasst. Vorangestellt seien, jeweils in Fettdruck, sechs Prozessanträge gewesen; der prozessual zentrale Entbindungsantrag sei nicht darunter gewesen. Er sei erst auf Seite 6 des Schriftsatzes aufgetaucht. Allerdings sei auch er fett gedruckt und dem Schriftsatz auch der deutlich abgesetzte und unübersehbare Vermerk vorangestellt gewesen: „Eilt sehr! Bitte sofort vorlegen!“ Schließlich sei zu bewerten, dass der Verteidiger den Schriftsatz direkt an das Telefaxgerät der Geschäftsstelle gesandt habe und nicht an eine andere Nummer des AG, bei der gegebenenfalls nicht mit einer sofortigen Weiterleitung an die Geschäftsstelle und die Abteilungsrichterin zu rechnen gewesen wäre.

Der Fall zeige Parallelen mit jener Fallgestaltung, aufgrund derer das OLG Düsseldorf seine „Gehörsrügefalle“-Rechtsprechung entworfen habe. Nach dieser Rechtsprechung handele der Verteidiger rechtsmissbräuchlich, der einen Entbindungsantrag in einem nur kurz vor der Hauptverhandlung übersandten unübersichtlichen Schriftsatz „verstecke“, weil er die Erhebung einer nachträglichen Gehörsrüge anstrebe und eigentlich gar nicht möchte, dass sein Antrag erkannt und beschieden werde.

Dass der Verteidiger hier etwas Ähnliches gewollt habe, sei denkbar. Tatsächlich sei unter den Bedingungen eines üblicherweise dynamisch und komplex verlaufenden Sitzungstags nicht damit zu rechnen, dass die Abteilungsrichterin den Schriftsatz in der unter normalen Voraussetzungen gebotenen und üblichen Gründlichkeit und Sorgfalt lese. Auch befremde der Aufbau des Schriftsatzes, dem zwar - einen prioritären Aufbau nahelegend - Prozessanträge vorausgestellt seien, der den an sich vorrangigen Entbindungsantrag aber erst unter ferner liefen enthalte. In die Bewertung, ob das Verteidigungsverhalten rechtsmissbräuchlich erscheine, müsse aber auch einfließen, dass der Verteidiger auf die Dringlichkeit seiner Eingabe unübersehbar hingewiesen habe und der Entbindungsantrag - wenn auch nicht wie andere Passagen unterstrichen - so doch immerhin fett gedruckt gewesen sei. Entscheidend gegen die Bewertung als rechtsmissbräuchliches Verteidigungsverhalten spreche der Umstand, dass der Schriftsatz direkt an das Faxgerät der maßgeblichen Geschäftsstelle gerichtet gewesen sei, so dass - jedenfalls bei geordnetem Geschäftsgang - eine Vorlage an die Richterin als sicher habe gelten können. Der Entbindungsantrag hätte damit durch das AG zur Kenntnis genommen und beschieden werden müssen. Dadurch, dass dies nicht geschehen sei, sei der B in seinem grundrechtlich gewährleisteten Recht, vor Gericht gehört zu werden, verletzt.

Das KG hat das Urteil daher aufgehoben und das AG wird erneut über die Sache zu befinden haben.

Praxishinweis

Um es kurz zu machen: Die Entscheidung ist richtig, ihre Begründung eher nicht.

Denn im Kern gibt das KG – ohne dass es für die Entscheidung notwendig gewesen wäre – zu erkennen, der vom OLG Düsseldorf „entworfenen“ Rspr. zur sog. „Gehörsrügefalle“ (OLG Düsseldorf VRR 2017, 16; dem folgend: OLG Oldenburg NJW 2018, 641) inhaltlich folgen zu wollen. Das verkennt, dass fristgemäß eingereichte Anträge vom Gericht vollständig zu berücksichtigen sind. Denn es findet sich in der StPO bzw. dem OWiG keine Regelung dazu, dass fristgemäß eingereichte Schriftstücke nur noch mit verminderter Sorgfalt – oder auch gar nicht – zur Kenntnis genommen werden müssen und, noch schlimmer, dass darauf beruhende Nachteile dem Betroffenen zuzurechnen wären. Das mag für rein querulatorische Schriftsätze mit ausuferndem Umfang, gern in Kombination mit einer Absendung an eine Zentralfaxnummer, anders gesehen werden. Es sollte aber in einer Justiz mit einem Qualitätsanspruch an die eigene Arbeit eine absolute Ausnahme bleiben.

KG, Beschluss vom 27.07.2021 - 3 Ws (B) 194/21 - 162 Ss 93/21 (AG Berlin-Tiergarten), BeckRS 2021, 22670