Urteilsanalyse

Fest­set­zung der Ent­schä­di­gung nach § 15 II AGG auf «Null» ist un­zu­läs­sig
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Die Ent­schä­di­gung nach § 15 II AGG muss einen tat­säch­li­chen und wirk­sa­men recht­li­chen Schutz der aus den An­ti­dis­kri­mi­nie­rungs­richt­li­ni­en des Uni­ons­rechts her­ge­lei­te­ten Rech­te ge­währ­leis­ten. Da­nach kommt nach An­sicht des BAG ein Ab­se­hen von einer Ent­schä­di­gung bzw. die Fest­set­zung einer Ent­schä­di­gung auf „Null“ nicht in Be­tracht.

30. Mrz 2022

An­mer­kung von
Ass. jur. An­to­nia Meyer, Gleiss Lutz, Düs­sel­dorf

Aus beck-fach­dienst Ar­beits­recht 11/2022 vom 24.03.2022

Diese Ur­teils­be­spre­chung ist Teil des wö­chent­lich er­schei­nen­den Fach­diens­tes Ar­beits­recht. Neben wei­te­ren aus­führ­li­chen Be­spre­chun­gen der ent­schei­den­den ak­tu­el­len Ur­tei­le im Ar­beits­recht be­inhal­tet er er­gän­zen­de Leit­satz­über­sich­ten und einen Über­blick über die re­le­van­ten neu er­schie­ne­nen Auf­sät­ze. Zudem in­for­miert er Sie in einem Nach­rich­ten­block über die wich­ti­gen Ent­wick­lun­gen in Ge­setz­ge­bung und Pra­xis des Ar­beits­rechts. Wei­te­re In­for­ma­tio­nen und eine Schnell­be­stell­mög­lich­keit fin­den Sie unter www.​beck-​online.​de.

Sach­ver­halt

Die Klä­ge­rin war beim be­klag­ten Ver­ein, einem am­bu­lan­ten Dia­ly­se­an­bie­ter, als Pfle­ge­kraft in Teil­zeit be­schäf­tigt. Mit ihrer Klage mach­te sie Zeit­gut­schrif­ten wegen ge­leis­te­ter Über­stun­den und einen Ent­schä­di­gungs­an­spruch nach § 15 II AGG gel­tend. Den Ent­schä­di­gungs­an­spruch be­grün­de­te sie damit, sie sei un­zu­läs­sig ge­gen­über Voll­zeit­be­schäf­tig­ten und mit­tel­bar wegen ihres Ge­schlechts be­nach­tei­ligt wor­den, weil der Be­klag­te über­wie­gend Frau­en in Teil­zeit be­schäf­ti­ge.

Das ArbG wies die Klage ab. Das LAG ver­ur­teil­te den Be­klag­ten le­dig­lich dazu, der Klä­ge­rin wei­te­re Stun­den im Ar­beits­zeit­kon­to gut­zu­schrei­ben. Nach dem Ur­teil des LAG schlos­sen die Par­tei­en einen Auf­he­bungs­ver­trag, in dem sie u.a. ver­ein­bar­ten, dass damit „sämt­li­che wech­sel­sei­ti­gen An­sprü­che der Par­tei­en aus dem Ar­beits­ver­hält­nis und des­sen Be­en­di­gung, gleich aus wel­chem Rechts­grun­de, gleich ob be­kannt oder un­be­kannt, ab­ge­gol­ten und er­le­digt“ sind.

Ent­schei­dung

Die Re­vi­si­on der Klä­ge­rin hatte kei­nen Er­folg. Das BAG ver­neint den gel­tend ge­mach­ten Ent­schä­di­gungs­an­spruch nach § 15 II AGG aber mit einer an­de­ren Be­grün­dung als das LAG, das eine Be­nach­tei­li­gung nach § 7 I AGG an­ge­nom­men hatte. Nach An­sicht des BAG sei es mit der Dop­pel­funk­ti­on von § 15 II AGG nicht ver­ein­bar, bei Fest­stel­lung einer ver­bo­te­nen Be­nach­tei­li­gung von einer Ent­schä­di­gung ab­zu­se­hen. Die Ent­schä­di­gung diene neben der Kom­pen­sa­ti­on eines im­ma­te­ri­el­len Scha­dens ins­be­son­de­re auch der Prä­ven­ti­on. Ein im­ma­te­ri­el­ler Scha­den könne auch nicht durch einen ma­te­ri­el­len Scha­dens­er­satz, der keine Ge­nug­tu­ungs­funk­ti­on er­fül­le, aus­ge­gli­chen wer­den. In­so­fern dürfe ein sol­cher auch nicht bei der Be­mes­sung der Ent­schä­di­gung nach § 15 II AGG be­rück­sich­tigt wer­den. Die Form der Be­nach­tei­li­gung habe eben­falls kei­nen Ein­fluss auf den Ent­schä­di­gungs­an­spruch. Eine mit­tel­ba­re Be­nach­tei­li­gung wiege nicht we­ni­ger schwer als eine un­mit­tel­ba­re Be­nach­tei­li­gung. Auch ein ge­rin­ger Ver­schul­dens­grad könne sich nicht zu Guns­ten des be­nach­tei­li­gen­den Ar­beit­ge­bers aus­wir­ken, weil die Haf­tung nach § 15 II AGG ver­schul­dens­un­ab­hän­gig sei.

Ein Ent­schä­di­gungs­an­spruch sei im vor­lie­gen­den Fall aber ab­zu­leh­nen, weil er je­den­falls durch die im Auf­he­bungs­ver­trag ge­trof­fe­ne Ver­ein­ba­rung, die als kon­sti­tu­ti­ves ne­ga­ti­ves Schuld­an­er­kennt­nis an­zu­se­hen sei, nach § 397 BGB er­lo­schen sei. Eine im Nach­hin­ein ge­trof­fe­ne, auf eine in der Ver­gan­gen­heit lie­gen­de mög­li­che Be­nach­tei­li­gung be­zo­ge­ne Ver­zichts­ver­ein­ba­rung ver­sto­ße nicht gegen § 31 AGG. Ein Ver­stoß sei nur an­zu­neh­men, so­weit An­sprü­che aus dem AGG be­reits vor ihrer Ent­ste­hung aus­ge­schlos­sen oder be­schränkt wür­den.

Pra­xis­hin­weis

Die Ent­schei­dung des BAG ent­spricht den uni­ons­recht­li­chen Vor­ga­ben, nach denen die Haf­tung des Ar­beit­ge­bers bei einer Dis­kri­mi­nie­rung ver­schul­dens­un­ab­hän­gig ist (EuGH, BeckRS 1997, 55145) und die ver­hän­gen­den Sank­tio­nen ab­schre­cken­de Wir­kung haben müs­sen (Art. 17 RL 2000/78/EG). Eine Ent­schä­di­gung „Null“ kommt daher bei Fest­stel­lung einer ver­bo­te­nen Be­nach­tei­li­gung nicht in Be­tracht. Für die Pra­xis ist davon aus­zu­ge­hen, dass die Ent­schä­di­gung re­gel­mä­ßig 1,5 Brut­to­mo­nats­ge­häl­ter be­trägt, wenn dem Ar­beit­ge­ber kein be­son­de­rer Schuld­vor­wurf zu ma­chen ist (BAG, FD-ArbR 2020, 431798).

Aus Grün­den der Rechts­si­cher­heit ist zu be­grü­ßen, dass das BAG mit der vor­lie­gen­den Ent­schei­dung klar­ge­stellt hat, dass § 31 AGG einem nach­träg­li­chen Ver­zicht auf An­sprü­che aus dem AGG nicht ent­ge­gen­steht. Ein sol­cher Ver­zicht kann, wie im vor­lie­gen­den Fall, auch in einer um­fas­sen­den Er­le­di­gungs­klau­sel in einem au­ßer­ge­richt­li­chen Auf­he­bungs­ver­trag oder einem ge­richt­li­chen Ver­gleich ent­hal­ten sein.

BAG, Ur­teil vom 28.10.2021 - 8 AZR 371/20 (LAG Hes­sen), BeckRS 2021, 46579