Kolumne
Fehlerkultur
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Als Manfred Genditzki am 7.7.2023 vom Landgericht München I „aus tatsächlichen Gründen wegen erwiesener Unschuld“ freigesprochen wurde, lag ein 4.915-tägiges Martyrium hinter ihm. Über 13 Jahre hatte er zu Unrecht im Gefängnis verbracht, zu lebenslanger Haft verurteilt wegen eines Mordes, den es wahrscheinlich nie gegeben hat. Im Rahmen der Wiederaufnahme – der nach Revision nunmehr dritten Hauptverhandlung – brachten zwei neue Gutachten endlich Klarheit.

20. Jul 2023

So ­ergab eine computergestützte Simulation der Bewegungsabläufe, dass die 87-jährige Seniorin Lieselotte Kortüm – eventuell wegen ­eines akuten Schwächeanfalls – wohl beim Wäschewaschen in die Badewanne gestürzt und ertrunken war. Dass Genditzki als Hausmeister der Wohnanlage zum willkommenen Objekt einseitigen Belastungseifers der Ermittlungsbehörden wurde, setzte eine „Kumulation von Fehlleistungen“ ins Werk, wie es in der Urteilsbegründung heißt.

Mit dem Freispruch Genditzkis betritt die bayerische Justiz historisches Neuland. Die Hartleibigkeit ihrer Gerichte, die traditionell nicht zimperlich mit begründeten Zweifeln umgehen, ist fast schon sprichwörtlich. Doch warum ist das so? Hat ein Richter tatsächlich Interesse daran, einen Unschuldigen möglichst lange in Haft zu halten? Sicher nicht! Es ist vielmehr die aus menschlichen Gesichtspunkten nachvollziehbare Angst vor dem ultimativen Fehler, welche die Justizjuristen veranlasst, zusammenzuhalten wie Pech und Schwefel. Denn Richter und Staatsanwälte sitzen in einem Boot, wenn sich ihr schlimmster Albtraum verwirklicht, ein Fehlurteil produziert zu haben.

Die grundsätzlich unausgesprochene Verabredung lautet: Kein Richter und kein Staatsanwalt soll nachts schweißgebadet aufwachen und an seine Fehlleistungen denken müssen. Deshalb beschützt jeder Kollege die Entscheidungen des anderen mit aller ihm zu Gebote stehenden Macht. Mit Zähnen und Klauen. Nur so ist sichergestellt, dass der Beschützende eines Tages selbst Schutz genießt, wenn auch ihm der eine fatale Missgriff unterläuft, der ihn in den Abgrund stürzen würde. Hat er es zuvor an Solidarität mangeln lassen, steht er dann allein, was der zweitschlimmste Albtraum ist. Paradoxerweise ist es genau die Angst vor einem Fehler, die dafür sorgt, dass die fatalsten Fehlurteile am längsten aufrechterhalten werden. Gemeinsam mit ihrer Kammer hat die Vorsitzende Richterin Elisabeth Ehrl den Gordischen Knoten zerschlagen und damit den Weg für eine moderne Fehlerkultur in der Justiz freigemacht. Denn selbst fatale Fehler sind menschlich. Sie entstehen durch Ignoranz oder Überarbeitung. Durch Voreingenommenheit oder in einem Moment der Ablenkung. Wir sollten die schwarze Kiste öffnen und klarstellen, dass es menschliche Größe zeigt, zu den eigenen Fehlern zu stehen.

Dank an Regina Rick, ohne deren Beharrlichkeit als Verteidigerin dieser Justizirrtum nie korrigiert worden wäre. Wahrheit und Freiheit sind durch sie wieder ins Recht gesetzt.

Dr. h.c. Gerhard Strate ist Rechtsanwalt in Hamburg.