Interview
Fehler im System?
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© picture alliance/dpa | Klaus-Dietmar Gabbert

Es geschieht nicht alle Tage, dass ein Staatsanwalt von den eigenen Kollegen verhaftet wird. In Frankfurt war das jüngst der Fall; dort soll ein Oberstaatsanwalt bei der Vergabe von Gutachten jahrelang in die eigene Tasche gewirtschaftet haben. Ein krasser Einzelfall – oder ist die Vergabe solcher Expertisen besonders missbrauchsanfällig? Fragen an den ehemaligen Chef der Generalstaatsanwaltschaft München, Manfred Nötzel.

16. Sep 2020

NJW: Der aktuelle Frankfurter Justizskandal deutet darauf hin, dass Staatsanwälte auch großvolumige Gutachtenaufträge unkontrolliert vergeben können. Wie sehen Sie das?

Nötzel: Den Fall in Frankfurt kenne ich nur aus der Medienberichterstattung. Daher kann ich mich dazu nicht äußern, bevor er abgeschlossen ist. Wenn die Vorwürfe zutreffen sollten, wäre das der erste derartige Fall im Zusammenhang mit Gutachtenaufträgen, der mir in annähernd 40 Jahren im Justizdienst bekannt geworden ist. Ein Staatsanwalt ist besonders an Recht und Gesetz gebunden, ebenso an seine Dienstpflichten; schließlich hat er ja gerade darauf seinen Diensteid abgelegt. Natürlich werden in den allermeisten Fällen Sachverständige vom Staatsanwalt nach sachgerechten Kriterien beauftragt. So kommt man bei einem Verkehrsunfall mit Verletzten oder gar Toten ohne ein unfallanalytisches Gutachten selten aus. Ist auch noch Trunkenheit im Spiel, wird ein rechtsmedizinisches Gutachten notwendig. Erst recht im Bereich der Kapitaldelikte, wenn es um die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Täters geht, kommt kein Schwurgericht ohne einen Sachverständigen aus. Und sinnvollerweise beauftragt ihn bereits der Staatsanwalt, um das Verfahren zügig zu fördern, weil insbesondere in Haftsachen unbedingt das Beschleunigungsgebot eingehalten werden muss.

NJW: Lädt das nicht zum Missbrauch geradezu ein?

Nötzel: Von einer systemimmanenten Einladung zum Missbrauch gehe ich nicht aus. Schließlich erhält der Staatsanwalt ja in der Regel nur einen Erkenntnisgewinn als „Gegenleistung“. Und dass die Beauftragung „unkontrolliert“ wäre, kann man auch nicht sagen. In manchen Bundesländern muss der Abteilungsleiter einen solchen Auftrag – zum Teil abhängig von der Höhe der Kosten – abzeichnen und genehmigen. Während meiner Zeit als Behördenleiter der StA München I war dies nur der Fall, wenn der neue Kollege noch (für ca. drei Monate) der Vorlage- und Abzeichnungspflicht seiner Verfügungen durch den Abteilungsleiter unterlag. Danach entschied er selber, und vor Gericht entschied sich dann, ob der Sachverständige sachkundig und erfahren genug war, um ein Gericht mit seinem mündlich vorzutragenden Gutachten zu überzeugen. Er musste dort auch Fragen von Gericht, Staatsanwaltschaft, Verteidigern und gegebenenfalls Nebenklägern sachkundig beantworten können, um zu überzeugen. Wenn ihm das souverän gelang, bestand auch kein Grund, die Richtigkeit und Qualität des Gutachtens zu bezweifeln.

NJW: Wie konnte es gleichwohl sein, dass ein Oberstaatsanwalt über Jahre hinweg bei der Vergabe von Gutachten immer das gleiche Unternehmen berücksichtigt hat, ohne dass dies beanstandet wurde?

Nötzel: Das ist keineswegs so selten, wie es die Frage nahelegt. Je nachdem, wie speziell die entscheidungserheblichen Sachfragen sind, kann der „Markt“ an kundigen Sachverständigen sehr eng sein. Hinzutritt, dass der Sachverständige disponibel sein muss, die vereinbarten Fristen zuverlässig einhält und die Qualität untadelig ist. In einem Spezialgebiet folgt aus dem Umstand, dass oft oder womöglich immer derselbe Gutachter beauftragt wird, zunächst nicht, dass dies zu beanstanden wäre.

NJW: Hat es Sie überrascht, dass offensichtlich auch kein Verteidiger jemals versucht hat, die Wahl des Sachverständigen zu beeinflussen?

Nötzel: Ich nehme mal als Tatsache an, was Sie in der Frage als „offensichtlich“ bezeichnen. Tatsächlich erscheint es erfahrungsgemäß eher ungewöhnlich, dass kein Verteidiger versucht haben soll, einen „eigenen“ Sachverständigen seines Vertrauens zu installieren. Erklären ließe sich dies natürlich mit dem erwähnten „engen Markt“, fehlender Verfügbarkeit oder Zeitnot. Oder womöglich damit, dass sich der stets bestellte Sachverständige in den bisherigen Hauptverhandlungen als unangreifbare Kapazität herausgestellt hat. Wenn der Verteidiger aber einen qualifizierten Sachverständigen vorschlägt, dieser jedoch weder von der Staatsanwaltschaft noch dem Gericht bestellt wird, bleibt noch die Hauptverhandlung. Hier kann die Verteidigung „ihren“ Sachverständigen als präsentes Beweismittel präsentieren oder zumindest als sachverständigen Zeugen, der die Feststellungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen angreifen und erschüttern kann.

NJW: Welche weiteren Kontrollmechanismen gab es neben der Vorlage- und Abzeichnungsfrist während Ihrer Zeit als Behördenchef in München?

Nötzel: Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass mir weder in den fünf Jahren als Abteilungsleiter der Anti-Korruptionsabteilung noch in den sieben Jahren als Behördenleiter auch nur ein Verdachtsfall zu Ohren gekommen ist. Bei den staatlichen Behörden nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern gibt es Richtlinien gegen Korruption, die jeder Staatsanwalt lesen und die Kenntnisnahme unterschriftlich bestätigen muss – üblicherweise jährlich! Gleichzeitig wurden Kollegen als Antikorruptionsbeauftragte, also als eine Art Compliance Officer, bestellt, die in diesem Bereich nur dem Chef unterstellt waren und an ihn berichteten. Es bleibt erfahrungsgemäß also fast nichts geheim, jeder macht Fehler bei der Begehung von Straftaten. Von daher bin ich überzeugt, dass in dem Frankfurter Fall nur ein früherer Hinweis – gegebenenfalls anonym – genügt hätte, und man wäre dem Verdacht nachgegangen.

NJW: Hessens Justizministerin hat verfügt, dass bei allen Staatsanwaltschaften des Landes bei der Vergabe von Gutachten das Vier-Augen-Prinzip gilt. Kann das missbräuchliche Auftragsvergaben verhindern?

Nötzel: Das kann sein, weil es eine zusätzliche Hürde aufstellt. Im vorliegenden Fall allerdings war der Beschuldigte ohnehin Oberstaatsanwalt und damit im Rang eines Abteilungsleiters bei der Staatsanwaltschaft. Das erforderliche zweite Augenpaar wäre dann der Behördenleiter. Wenn der sich jeden Gutachtenauftrag anschauen und bewerten wollte, hätte er in dieser Masse von Standardaufträgen uferlos viel zu tun. Ich bezweifle, dass im Fall des in Rede stehenden Missbrauchs die Tat so verhindert worden wäre.

NJW: Stehen für Gutachten nicht ausreichend Kapazitäten bei den LKAs oder anderswo im öffentlichen Dienst zur Verfügung, so dass man auf Unternehmen zurückgreifen muss?

Nötzel: Die Frage kann ich mit einem klaren „Ja“ beantworten. Die Anforderungen sind so vielfältig geworden, dass auch gut ausgestattete Behörden die Aufträge – selbst bei vorhandener Kapazität – nicht mehr zeitgerecht erledigen können. Demgegenüber sind Universitäten immer noch enorm leistungsfähig und werden regelmäßig beauftragt, zumal die LKAs nicht alle Fachgebiete abdecken können.

NJW: In Hessen sorgt man sich gerade massiv um das Ansehen der Justiz, insbesondere im Bereich der Korruptionsbekämpfung und -prävention. Zu Recht?

Nötzel: Allerdings! Die Staatsanwaltschaft gilt nach Auffassung des BVerfG ja gerade als „Hüterin des Gesetzes“. Das in Rede stehende Fehlverhalten des Oberstaatsanwalts, falls es bewiesen wird, ist sehr wohl geeignet, an den Grundfesten des Vertrauens in die Integrität der Justiz zu rütteln. Deshalb tun hier kühles Blut und vollständige Transparenz not. Noch ein Gedanke zum Schluss: Bei der Staatsanwaltschaft München I wurde eine Liste der Auflagenempfänger von Geldbußen im Rahmen von Verfahrenseinstellungen nach § 153a StPO geführt. Aufgenommen werden konnte nur, wer den Nachweis der Gemeinnützigkeit vorlegte. Ein analoges Register für Gutachtenerstattungen könnte helfen. Insbesondere bei Unternehmen müsste Transparenz herrschen, wer an der Gesellschaft beteiligt ist und profitiert. Und mit geringem Aufwand ließen sich auch die dahin gezahlten Honorare erfassen. Das wäre ein gutes Werkzeug für die Führung, um früh auf Unregelmäßigkeiten aufmerksam zu werden. •

„Deutschlands erfolgreichster Staatsanwalt geht in den Ruhestand“, titelte die SZ im Februar 2018 über Manfred Nötzel anlässlich seiner offiziellen Verabschiedung. Seine Karriere in der Justiz begann 1981 beim AG München. Ab Mai 1998 leitete er die Korruptionsabteilung der Staatsanwaltschaft München I. Fünf Jahre später übernahm er deren Leitung. Vom 15.12.2015 bis Ende 2017 stand er an der Spitze der Generalstaatsanwaltschaft München. Einer seiner prominentesten Fälle war das Verfahren gegen Bernie Ecclestone, das gegen eine Rekord-Geldauflage von 100 Mio. Dollar eingestellt wurde. Nötzel wurde 2020 vom Landtag von Sachsen-Anhalt zum Sonderermittler im Fall Oury Jalloh ernannt.

Interview: Dr. Monika Spiekermann.