Urteilsanalyse
Fehlen ausdrücklicher Auseinandersetzung mit zentralem Parteivortrag im Urteil
Urteilsanalyse
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Gerichte sind nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen einer Partei ausdrücklich auseinanderzusetzen. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kann laut BGH aber dann festgestellt werden, wenn sich aus den besonderen Umständen des einzelnen Falles deutlich ergibt, dass das Gericht Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung nicht in Erwägung gezogen hat.

17. Okt 2022

Anmerkung von
Rechtsanwalt beim BGH Dr. Guido Toussaint, Toussaint & Schmitt, Karlsruhe

Aus beck-fachdienst Zivilverfahrensrecht 20/2022 vom 07.10.2022

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Davon ist unter anderem dann auszugehen, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags eines Beteiligten in einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingegangen ist, sofern er nach seinem Rechtsstandpunkt nicht unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war.

Sachverhalt

Die Klägerin war im Krankenhaus der Beklagten in stationärer Behandlung; postoperativ entwickelten sich Komplikationen. Zur Vorbereitung eines Arzthaftungsprozesses begehrt sie mit ihrer Klage im Wesentlichen, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin eine lesbare Ablichtung des die Operation betreffenden Schmerzprotokolls Zug-um-Zug gegen Erstattung der entstandenen Kosten herauszugeben. Sie hat hierzu behauptet, aus dem bei ihrer Krankenhausaufnahme angelegten „Pflegeprozess“ ergebe sich, dass die Schmerzerfassung per Selbsteinschätzung mittels visueller Analogskala (VAS) vorgesehen und auch erfolgt sei, bei der der Patient die subjektiv empfundenen Schmerzen anhand einer Grafik einordne; unter den vorprozessual übersandten Unterlagen habe sich allerdings nur ein entsprechendes, einen anderen Patienten betreffendes Protokoll befunden. Das LG hat die Klage abgewiesen (LG Bochum BeckRS 2019, 62626), die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg (OLG Hamm BeckRS 2020, 59284). Zur Begründung hat das Berufungsgericht im Wesentlichen ausgeführt, es könne dahingestellt bleiben, ob die Klage unter dem Gesichtspunkt des Rechtsschutzbedürfnisses angesichts der zwischenzeitlich bereits erhobenen Schadensersatzklage im Hauptsacheverfahren überhaupt noch zulässig sei, was sehr zweifelhaft sei; denn die Berufung sei in jedem Fall unbegründet. Die Klägerin könne von der Beklagten nicht nach §§ 630a, 630g BGB die Herausgabe des Schmerzprotokolls verlangen, weil sie nicht beweisen könne, dass ein solches im Hinblick auf die bei ihr durchgeführte Spinalkanalanästhesie überhaupt angefertigt worden sei, die bei ihr die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hervorgerufen haben solle. So habe der Zeuge Dr. B. bekundet, dass er es für ausgeschlossen halte, dass bei dem von ihm mit der Beklagten geführten Gespräch ein solches Protokoll vorgelegen habe, weil für seinen Fachbereich derartige Protokolle nicht angefertigt würden, weder zur damaligen Zeit noch heute. Dabei habe er darauf hingewiesen, dass es für ihn auch nicht nachvollziehbar wäre, wenn die Anfertigung derartiger Protokolle im Bereich der Anästhesie dem Patienten überlassen bliebe. Dies würde vielmehr vom Arzt dokumentiert. Derartige Protokolle könne es bei den Orthopäden geben oder auch bei einer interventionellen Schmerztherapie, wie sie bei der Klägerin zuvor im März erfolgt sei. Darüber habe er jedoch keine weiteren Erkenntnisse. Dem von der Klägerin erstellten Gedächtnisprotokoll könne der (Berufungs-)Senat nichts Anderes entnehmen, weil diese Protokolle zeitlich wesentlich später erfolgt seien, so dass nicht auszuschließen sei, dass sich die Klägerin falsch erinnert habe beziehungsweise den Vorgang fälschlicherweise mit einer anderen Behandlung in Verbindung gebracht habe. Soweit sich die Klägerin auf weitere Krankenschwestern und eine Parteivernehmung berufen habe, wäre es einem Ausforschungsbeweis gleichgekommen.

Entscheidung: Fehlende Auseinandersetzung mit Vortrag zum „Pflegeprozess“ begründet Gehörsverstoß

Der BGH hat auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin – wie von § 544 Abs. 9 ZPO ermöglicht – sogleich das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Die Erwägungen beruhten auf einer Verletzung des Anspruchs der Klägerin aus Art. 103 Abs. 1 GG auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Zulassungsgrund nach § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Fall 2 ZPO). Aus dem von der Klägerin bereits in erster Instanz vorgelegten „Pflegeprozess“ ergebe sich ua, dass als „Pflegeintervention“ eine „Schmerzerfassung per Selbsteinschätzung mittels VAS“ jedenfalls vorgesehen gewesen sei. Dabei habe es sich um zentrales Vorbringen der Klägerin in Bezug auf ihre Behauptung, bei ihrem Aufenthalt sei ein solches Schmerzprotokoll dann auch angefertigt worden. Dass sich das Berufungsgericht mit diesem Vortrag, der doch ganz erheblich für die Richtigkeit der genannten Behauptung der Klägerin spreche, nicht auseinandergesetzt hat, lasse den Schluss darauf zu, dass es ihn bei seiner Entscheidung jedenfalls aus den Augen verloren habe. Aus dem bloßen Umstand, dass im Tatbestand des Berufungsurteils auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils verwiesen wird, in dem auch der „Pflegeprozessauszug“ erwähnt sei, folge nichts Anderes. Denn dieser Umstand ändere nichts daran, dass sich das Berufungsgericht mit dem dargestellten, erheblich für die Behauptung der Klägerin sprechenden Protokoll in seiner Beweiswürdigung überhaupt nicht auseinandergesetzt habe.

Der hierin liegende Gehörsverstoß (vgl. LSe) sei auch entscheidungserheblich, denn es sei nicht ausgeschlossen, dass sich das Berufungsgericht unter Berücksichtigung des übergangenen Vortrags letztlich davon überzeugt hätte, dass ein Schmerzprotokoll – der Behauptung der Klägerin entsprechend – erstellt worden sei. Der das Berufungsurteil allein tragenden Begründung, die Klägerin habe nicht nachgewiesen, dass ein Schmerzprotokoll überhaupt erstellt wurde, wäre damit der Boden entzogen. Ob das Berufungsgericht die Klage letztlich auch in diesem Fall abgewiesen hätte, weil es davon ausgegangen wäre, dass das Protokoll auch im Falle seiner Erstellung nicht mehr vorliege, könne ohne die dafür notwendigen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht beurteilt werden. Jedenfalls erscheine es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass sich ein einmal erstelltes Protokoll noch im Besitz der Beklagten, etwa – wofür das fremde Schmerzprotokoll in der Akte der Klägerin sprechen könnte – in der Akte eines anderen Patienten, befinde. Der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückweisung der Sache an das Berufungsgericht stehe auch nicht entgegen, dass – wie das Berufungsgericht andeutet, letztlich aber offenlässt – die vorliegende Klage nach Erhebung der Schadensersatzklage mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig wäre, denn beim Einsichts- und Herausgabeanspruch gemäß § 630g BGB handele es sich um einen selbständigen Anspruch, der nicht nur den Zweck habe, im Vorfeld eines Prozesses die Klage vorzubereiten. Daher sei es im weiteren Verfahren auch unerheblich, ob das von der Klägerin begehrte Schmerzprotokoll im Hinblick auf die Spinalkanalanästhesie oder aus einem anderen Grund erstellt worden sei.

Praxishinweis

Im besprochenen Fall hatte das Berufungsgericht den Kläger hinsichtlich seiner Behauptung, es habe ein von ihm selbst erstelltes Schmerzprotokoll gegeben, im Ergebnis deshalb für beweisfällig angesehen, weil der Zeuge Dr. B die Erstellung eines solchen Protokolls für ungewöhnlich und nicht nachvollziehbar gehalten hatte, dabei aber aus dem Blick verloren, dass der Kläger konkrete, für die Protokollerstellung sprechende Umstände (wie zB den dies ausdrücklich vorsehenden „Pflegeprozess“) vorgetragen hatte. Damit hatte es insoweit zentralen Parteivortrag übergangen und das rechtliche Gehör des Klägers verletzt. Für die Partei ist wichtig, dass sie dann, wenn sie erkennt, dass das Gericht den ihm unterbreiteten Sachvortrag nicht richtig bzw. unzureichend versteht, frühzeitig das Gericht darauf hinweist, weil ihr anderenfalls durch den Subsidiaritätsgrundsatz eine spätere Gehörsrüge abgeschnitten sein kann (vgl. hierzu auch die Anm. zu BGH, Beschluss vom 16.08.2022 – VI ZR 1151/20, BeckRS 2022, 23412).


BGH, Beschluss vom 21.06.2022 - VI ZR 1067/20 (OLG Hamm), BeckRS 2022, 20959