NJW-Editorial
Fachanwälte eine gefährdete Spezies?

An eine schrumpfende Anwaltschaft haben wir uns mittlerweile gewöhnt. Dass jetzt aber auch die Zahl der Fachanwältinnen und Fachanwälte insgesamt stagniert, ist neu. Überraschend kommt die Trendwende aber nicht. Ursächlich hierfür ist auch das starre Regelungskonzept der Fachanwaltsordnung. 

2. Aug 2023

An eine schrumpfende Anwaltschaft haben wir uns mittlerweile gewöhnt. Die Bundesrechtsanwaltskammer hat jüngst wieder Zahlen publiziert. Binnen zwölf Monaten ist die Zahl der in Kanzlei niedergelassenen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte erneut um mehr als 2.000 zurückgegangen – am 1.1.​2023 waren es noch 140.713. Seit 2017 ist die größte Teilgruppe der Anwaltschaft um fast 10 % geschrumpft. Die Berufsorganisationen begreifen diese Entwicklung nicht länger als Segen für das Einkommen ihrer weniger werdenden Mitglieder, sondern in einem weiterhin wachsenden Rechtsdienstleistungsmarkt als ernsthafte Zukunftsherausforderung für den Berufsstand und den Zugang zum Recht: Die am stärksten besetzen Jahrgänge werden erst ab Ende dieses Jahrzehnts aus dem ­Beruf ausscheiden.

Die Statistik hat noch etwas zu Tage gefördert – die Zahl der Fachanwälte ist 2022 nur noch um acht, die Zahl verliehener Fachanwaltstitel lediglich um 110 gestiegen. Sechs bedeutende Fachanwaltschaften, die fast 40 % aller Fachanwaltstitel auf sich vereinen, sind gar geschrumpft: Jene für Familienrecht, Verwaltungsrecht, Steuerrecht, Sozialrecht, Miet- und WEG-Recht sowie Bank- und Kapitalmarktrecht. Dies ist bemerkenswert, hatte sich die Zahl der Fachanwälte in einer stürmischen Entwicklung seit 1995 auf zuletzt knapp 46.000 mehr als verzehnfacht. Mit den rückläufigen Anwaltszahlen lässt sich die Trendwende nicht erklären, sind doch weiterhin fast 100.000 Anwälte ohne Fachanwaltstitel unterwegs. Ein solcher Titel schmückt nicht nur, sondern führt, dies haben Studien nachgewiesen, meist zu einem Einkommenszuwachs und der Möglichkeit fachlicher Fokussierung, ist also lukrativ.

Gleichwohl kann Ersatzbedarf offenbar nicht mehr befriedigt werden. Warum? Ein Blick in die Fachanwaltsordnung gibt die Antwort: Obwohl rechtsförmliche Verfahren stark rückläufig sind, beharrt die FAO für den Titelerwerb auf dem Nachweis einer gewissen Zahl gerichtlicher Fälle – selbst in Rechtsgebieten, in denen jeder gute Rechtsanwalt im Interesse seiner Mandanten ein Gerichtsverfahren scheuen muss wie der Teufel das Weihwasser. Fallquoren, ja der Zuschnitt ganzer Fachanwaltschaften bilden die Realitäten einer zunehmend spezialisierten Anwaltschaft nicht mehr ab. Mit starren Qualifikationszeiträumen negiert die FAO, dass mittlerweile ein Viertel der Anwaltschaft – häufig junge Frauen – den Beruf in Teilzeit ausübt.

Die aktuelle Entwicklung kommt keineswegs überraschend – die Probleme sind bereits vor zehn Jahren benannt worden (Kilian NJW 2013, 1561). Es bleibt daher zu hoffen, dass sich die jüngst neu gewählte Satzungsversammlung nicht wieder in endlosen ­Debatten um neue Fachanwaltsgebiete verliert, sondern sich eine überfällige strukturelle Reform der FAO zur Aufgabe macht. Die aktuellen Zahlen sind Warnung, dass es höchste Zeit ist, die Zukunftsfähigkeit des Fachanwaltskonzepts zu sichern.

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Prof. Dr. Matthias Kilian ist Direktor des Instituts für Anwaltsrecht der Universität zu Köln.