Kolumne
Evidenzbasiert
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Urban legends, wer kennt sie nicht. Herrliche Geschichten, Ammenmärchen, skurrile Anekdoten, moderne Sagen, Schauergeschichten, einer sagt was, über Social Media verbreitet es sich in Windeseile, plötzlich werden überall Menschen von Spinnen aus Yuccapalmen angefallen, und alle glauben fest daran. Urban legends eben.

11. Mrz 2021

Neuerdings ist das anders, Stichwort evidenzbasiert. Alle Maßnahmen gegen Corona sind evidenzbasiert, es hängt immer von den Einschätzungen der Wissenschaftler ab; gefällt natürlich auch nicht jedem, zumal es ja auch mehr als einen gibt. Man glaubt gar nicht, wie viele wichtige Gesichtspunkte von Wissenschaftlern komplett falsch eingeschätzt werden, und da können wir echt froh sein, dass es noch die Virologen-Schwarmintelligenz bei Twitter und Facebook gibt. Wir müssen noch den richtigen Umgang lernen, gerade was die gute Mischung aus Evidenz einerseits und politischer Gestaltung andererseits angeht, aber das wird schon noch. Gut, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und evidenzbasierte Politik überhaupt eine Rolle spielen, vielleicht klappt das auch mal beim Klima.

Wenn es um die Rechtspflege geht, ist es mit der Evidenz auch nicht weit her. Warum seit Jahren die Eingangszahlen bei der Ziviljustiz gesunken sind, weiß niemand, und die Gründe für den neuerlichen Zahlenanstieg, gerade jetzt, wo die Richtergeneration der Boomer in Pension geht, liegen auch im Dunkeln. Es wird aber immerhin gerade an einer Studie gearbeitet, in zweieinhalb Jahren soll sie fertig sein. Andere Länder sind da deutlich weiter als wir, da gehört eine „Unmet Legal Needs“-Studie zur Grundausstattung jeglicher Rechtspolitik. Und die Frage, wie ein Zugang zum Recht zu gestalten ist, wird unter Berücksichtigung der Untersuchungsergebnisse beantwortet. Da geht es insbesondere um die Bedürfnisse der Nachfrager, also der Verbraucher und Unternehmen. Das hat woanders zu einer Auflockerung des Anwaltsmonopols geführt. Davon sind wir hier weit entfernt, vielleicht ist das richtig. Aber warum Verbraucher zum Beispiel lieber einen Legal-Tech-Inkassodienstleister beauftragen als einen Anwalt oder eine Schlichtungsstelle, und warum sie freiwillig mehr zahlen (wenn sie etwas gewinnen), weiß man nicht, jedenfalls nicht empirisch gesichert. Wüsste man es, würde man vermutlich zu besseren Ergebnissen kommen für diejenigen, die Recht suchen oder wenigstens ihre Ansprüche, so geringwertig sie auch sein mögen, risikofrei durchsetzen wollen. Aber solange es keine Evidenz gibt und Nachfrager nicht gefragt werden, orientiert sich die Rechtspflegepolitik am Bestehenden und den Verbandsvertretern der Anbieter.

Auch wir Anwälte haben es bei uns selbst nicht so mit der Evidenz. Dass Erfolgshonorare oder Fremdbeteiligung das Schlechteste aus uns herausholen bzw. die Unabhängigkeit unrettbar beeinträchtigen, ist zwar durch nichts belegt. Dennoch sind sie egalweg verboten. Auch so eine Urban legend. Anwälte sollten Yuccapalmen fernbleiben. •

Markus Hartung ist Rechtsanwalt und Mediator in Berlin, Senior Fellow des Bucerius Center on the Legal Profession und Mitglied des Berufsrechtsausschusses des DAV.