Interview
Evakuierung ohne Rechtsgrundlage?
Interview
Foto_Interview_NJW_36_2021_Helmut_Philipp_Aust
Foto_Interview_NJW_36_2021_Helmut_Philipp_Aust

Seit Mitte August sind in Afghanistan wieder die Taliban an der Macht. Seitdem haben westliche Streitkräfte unter Beteiligung der Bundeswehr ihre Staatsbürger und besonders gefährdete Afghanen aus dem Land evakuiert. Wir haben uns mit Prof. Dr. Helmut Philipp Aust von der FU Berlin über die Rechtmäßigkeit dieser Einsätze unterhalten.

2. Sep 2021

NJW: Vor rund zwanzig Jahren erteilte der UN-Sicherheitsrat das Mandat für eine internationale Schutztruppe (ISAF) in Kabul, 2003 wurde der Einsatz auf ganz Afghanistan ausgedehnt. Welche Ziele wurden damit verfolgt, und was wurde seitdem erreicht?

Aust: Das UN-Mandat hatte zum Ziel, Afghanistan nach der Herrschaft der Taliban und der in Reaktion auf die Angriffe des 11.9. 2001 erfolgten Militäreinsätze unter Führung der USA zu stabilisieren. Insbesondere die westlichen Staaten verbanden diesen Einsatz auch mit der Hoffnung, demokratische Strukturen in Afghanistan zu schaffen. Diese anspruchsvollen Ziele wurden offenkundig nicht erreicht. Wenn man dagegen die Zerschlagung der Machtbasis von al-Qaida als vorrangiges Ziel erachtet, sieht es etwas besser aus. Aber klar ist: Mit dem Ende des Afghanistan Einsatzes kann niemand zufrieden sein. Es erscheint mir aber etwas wohlfeil, jetzt so zu tun, als hätten es alle vorher besser gewusst.

NJW: Auf welcher Rechtsgrundlage beruhte das Mandat?

Aust: Der NATO-Einsatz basierte auf einer Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat nach Kapitel VII der UN-Charta. Bei aller immer wieder geäußerten Kritik war es insofern weitgehend unstrittig, dass der Einsatz Deutschlands und anderer Staaten völkerrechtlich auf einer soliden Grundlage beruhte. Verfassungsrechtlich betrachtet handelte die Bundeswehr hier im Rahmen und nach den Regeln eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit, wie es die Rechtsprechung des BVerfG für die Beteiligung an internationalen Militäreinsätzen nach Art. 24 II GG erfordert.

NJW: Die Bundeswehr hat ab Mitte August Menschen aus Kabul ausgeflogen, deutsche Soldaten haben die Evakuierung am Flughafen und in der Stadt abgesichert. Ist so ein Rettungseinsatz rechtlich überhaupt zulässig?

Aust: Hier muss man zunächst zwischen der völkerrechtlichen und der verfassungsrechtlichen Rechtslage differenzieren. Im Völkerrecht gibt es eine wachsende Akzeptanz für die Zulässigkeit solcher Rettungsoperationen auf Grundlage einer entsprechenden Entwicklung des Völkergewohnheitsrechts. Allerdings ist die Lage in Afghanistan in faktischer Hinsicht kompliziert. Die „alte“ Regierung unter Präsident Aschraf Ghani hatte die westlichen Staaten gebeten, nicht zu schnell mit Evakuierungsoperationen zu beginnen. In rechtlicher Hinsicht ist mir aber nicht bekannt, dass die afghanische Regierung gegen solche Rettungsoperationen protestiert hätte. Faktisch haben sich die Taliban mit der Machtübernahme am 15.8. als neue Regierung konstituiert und zumindest stillschweigend die Evakuierung ausländischer Staatsangehöriger akzeptiert – zumindest bis zum 31.8.

NJW: Wie stellt sich die Zulässigkeit der Evakuierungen aus verfassungsrechtlicher Sicht dar?

Aust: Sie ist in der Tat umstritten. Knackpunkt der verfassungsrechtlichen Diskussion ist die Frage, ob Art. 87a II GG auf Auslandseinsätze der Bundeswehr Anwendung findet. Wenn man dies bejaht, sind Einsätze der Bundeswehr nur zulässig, soweit sie ausdrücklich vom GG vorgesehen sind. Und dann wird es mit einer sauberen Grundlage für solche Operationen schwierig, will man nicht auf fragwürdige Formen der Personalverteidigung – „Ein Angriff auf deutsche Staatsbürger ist ein Angriff auf Deutschland!“ – zurückgreifen oder aus den grundrechtlichen Schutzpflichten eine Grundlage für den Einsatz der Bundeswehr herleiten. Für die Evakuierungsoperation in Afghanistan scheint es mir aber vertretbar zu sein, sie als „Nachsorge“ des vorhergehenden Einsatzes der Bundeswehr zu erachten. Die Präsenz der Bundeswehr stand ja im Kontext eines NATO-Einsatzes, der innerstaatlich von Art. 24 II GG gedeckt war. Vom Einzelfall abgesehen ist die Verfassungsrechtslage aber zutiefst unbefriedigend: Es ist klar, dass die Bundesregierung in einer Situation, wie wir sie im August erlebt haben, handeln muss. Ich plädiere insofern für eine behutsame Ergänzung der grundgesetzlichen Wehrverfassung, um für solche Einsätze Rechtsklarheit zu erreichen.

NJW: Hätte nicht der Bundestag diesem Einsatz vorab zustimmen müssen?

Aust: Es ist grundsätzlich richtig, dass das Parlament Auslandseinsätzen zustimmen muss, wenn eine Einbeziehung in bewaffnete Unternehmungen vorliegt. Dass ein solcher Rettungseinsatz zustimmungspflichtig ist,
hat das Verfassungsgericht in seiner Pegasus-Entscheidung vom September 2015 bejaht, die sich mit einer Operation in Libyen 2011 beschäftigte. Bei Gefahr im Verzug kann die Parlamentszustimmung aber nachgeholt werden, wie es am 25.8. ja auch erfolgt ist.

NJW: Als besonders gefährdet gelten die sogenannten Ortskräfte. Unter welchen rechtlichen Voraussetzungen konnten diese Menschen evakuiert werden?

Aust: Hier wird es aus einer völkerrechtlichen Perspektive in der Tat knifflig, denn die gewohnheitsrechtliche Akzeptanz für die Rettung eigener Staatsangehöriger greift hier nicht. Ein Ausfliegen von afghanischen Staatsangehörigen steht insofern in einem Spannungsverhältnis zur afghanischen Gebietshoheit. Diese ist aber nicht unbeschränkt. Afghanistan hat sich etwa auch über den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte dazu verpflichtet, jeder Person das Recht auf freie Ausreise zu gewähren. Das kann man hier sicher in eine Abwägung bringen. Und wenn eine Evakuierungsoperation ohnehin am Laufen ist, wird dies im Zweifel pragmatisch gehandhabt. Schwierig wird es, wenn die Evakuierung der eigenen Staatsangehörigen abgeschlossen ist. Dann wird kein Weg an Verhandlungen mit der Taliban-Regierung vorbeiführen.

NJW: Es heißt immer wieder, Deutschland sei verpflichtet, den Ortskräften zu helfen. Sprechen wir insoweit von einer rechtlichen oder einer moralischen Pflicht?

Aust: Die moralische und politische Pflicht gibt es zweifelsohne – es wurden ja auch entsprechende Zusagen gegeben. Ob es auch eine rechtliche Pflicht gibt, finde ich weniger eindeutig. Sie könnte sich aus grundrechtlichen Schutzpflichten ergeben. Seit dem Urteil zum BND-Gesetz bestehen keine Zweifel daran, dass die Grundrechte des GG grundsätzlich auch bei Handeln im Ausland gelten. In der Klimaentscheidung hat das BVerfG jedoch auch betont, dass der Verwirklichung von Schutzpflichten bei Situationen mit Auslandsbezug rechtliche und faktische Grenzen gesetzt sind – etwa aus dem völkerrechtlichen Interventionsverbot. In gewisser Weise ist die Situation parallel zur Rechtsfrage, ob es ein Recht auf diplomatischen Schutz durch die Bundesregierung gibt: Einen grundsätzlichen Anspruch gibt es, wie dieser aber in der Praxis eingelöst wird, ist Gegenstand eines weiten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraums der Bundesregierung. Bei akuten Gefährdungen für Leib und Leben kann dieser Spielraum auch stark zusammenschrumpfen – es bleiben aber die faktischen Probleme, eine solche Schutzpflicht dann auch durchzusetzen. Es kann jedoch unter Umständen einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen geben. In diese Richtung hat das VG Berlin in einer ersten Eilentscheidung vom 25.8. judiziert und mit einer Ermessensreduzierung auf Null argumentiert.

NJW: Hat die internationale Staatengemeinschaft (völker-)rechtliche Mittel, um die Achtung der Menschenrechte durch die Taliban durchzusetzen?

Aust: Es gibt Verfahren im Bereich des UN-Menschenrechtsschutzes, etwa Berichtspflichten. Ihre praktische Wirksamkeit hängt aber nicht zuletzt von der Kooperationsbereitschaft Afghanistans ab. Auf den UN-Sicherheitsrat sollte man keine großen Hoffnungen setzen, wobei dieser an und für sich das noch bestehende Taliban-Sanktionsregime den neuen Gegebenheiten anpassen könnte. Bei massiven Menschenrechtsverletzungen können auch Drittstaaten wie Deutschland – alleine oder im Konzert der EU – Gegenmaßnahmen in Form von Wirtschaftssanktionen beschließen. Andere Reaktionsmöglichkeiten wie etwa die Versagung von Mitteln im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit gibt es natürlich auch.

Seit dem Wintersemester 2016/2017 ist Prof. Dr. Helmut Philipp Aust Inhaber der Professur für Öffentliches Recht und Internationalisierung der Rechtsordnung an der FU Berlin. Studiert hat er in Göttingen und an der Université Paris XII. Es folgten Tätigkeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie an der Humboldt-Universität Berlin. Im Januar 2016 schloss er dort sein Habilitationsverfahren ab und erhielt die Venia für Öffentliches Recht, Völkerrecht, Europarecht und Rechtsvergleichung.

Interview: Dr. Monika Spiekermann.